Brief vom 3. Dezember 1762, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 3. Dezember 1762

W. den 3 Dec.

Durch eine große Nachläßigkeit meines Bedienten ist mir einer ihrer besten und wichtigsten Briefen, der vom 19 No. erst jezo zugestellt worden. Ich kan die Vorstellung nicht vertragen, daß Sie denken könnten ich habe Ihnen auf so viel wichtige Gedanken, die er enthält nichts geantwortet, und eile deßwegen mich dieser Last zu entledigen.

Ich freüe mich von Herzen über den Anschein des Guten, daß Sie an ihrer Jugend entdeken, wie wol ich nicht ohne Sorge bin, es möchte für eine gewiße Belebung und merkliche Verbeßerung des Staates zu späthe kommen. Dieser Körper scheinet in den edlern, zur Stärke des Lebens wesentlichen Theilen angegriffen, so daß nur außerordentliche Zufälle oder ganz außerordentliche Ärzte seine Gesundheit völlig herstellen könnten. Die Gesinnungen, welche Sie so gerne den Gemüthern eingepflanzt wißen wollten, sind unsrer Natur nach leicht, aber der Erziehung nach unendlich schweer zu erhalten. Was kann den großes entstehen, wo ein Fehler gegen die Sprache, als ein ernstliches Vergehen und die Funken einer edlen Denkart als unerhebliche Dinge angesehen werden: Wo man einen Fleken im Kleid so ernstlich, als eine ungerechtigkeit bestraft, wo alles große und Edle unbemerkt in die Vergeßenheit sinkt, das spizfündige, Listige und künstliche, als das Höchste gelobt wird? Man gewöhnt uns in Kleidern, Geräthschaften, Künsten, Erfindungen, sittlichen Handlungen, das Bunte zu schäzen und das edle und große entzieht man unsrer Aufmerksamkeit. Dazu komt ein gewißer anscheinender Wolstand, der uns einschläffert und die stärkern Reizungen und Anstrengungen der Seelenkräfte hindert. Alle unsre Vorstellungen tanzen nur auf der Oberfläche der Seele herum und wir sind zufrieden, wenn sie, wie auf einer Seifenblase schöne Farben erweken. Es ist bey solchen Umständen unendlich schweer auf den Grund des Verstandes und des Herzens zu dringen. Doch glaube ich, daß es Ihnen bisweilen gelingt, und daß Sie alles beytragen, was ein Mensch, mit ziemlich eingeschrenkten Mitteln oder vielmehr auf einer kleinen Scene thun kann. Ich kann ihr Urtheil über unsern hiesigen Zustand nicht verwerffen. Man ist unthätig in Großen und sehr geschäftig in kleinen dingen. Man stellt sich leichte Sachen als schweer und hingegen Unmögliche Hirngespinster als möglich vor. Man sucht seine Stärke nicht da wo sie würklich verborgen liegt, seine Freyheit nicht da, wo sie ganz ungehindert herrscht, sondern in ganz fremden oder unmöglichen Dingen. Sich würklich für den Staat aufopfern, davon wißen kaum die Besten etwas. Man sieht da Gefahr, wo sie nicht ist und den großen Schaden bildet man sich auf der Seite ein, woher der Nuzen kommen würde. Ein großer Hauptfehler ist die allzu große Hize, welche uns hintert die Sachen in ihrem rechten Licht zusehen die uns alle Schritte der andern als gefährlich, gegen uns gerichtet und verfänglich ansehen läßt. Ich glaube die wichtigsten unsrer Fehler einzusehen und predige wie Sie sagen, mit starker Lunge, täglich dagegen. Ich muß abwarten, was für Früchte, dieser Saamen hervorbringen wird.

Nun wißen wir, was wegen des Wülflinger Geschäftes vor ist. Noch sehe ich nicht gewiß genug, daß es nur darauf angesehen sey uns Verdruß zu machen. Man kann großes Recht gegen uns haben, und ich ermahne die unsrigen nicht eher verdrießlich zu werden, bis man die Sache ganz wißen wird. Es ist eine sehr gute Staats Maxime, daß niemand die in dem Gehäge eines Dorffs liegende Güter an sich kauffen soll, als wer zum Dorffe gehört. Will man nur diese gegen uns gelten laßen, und thut man uns dieses ohne Bitterkeit zu wißen, so haben wir nichts dagegen zu sagen. Mein Rath ist freüdig alles heraus zu geben, außer die Weinreben, welche ihre Mittbürger an hundert Orten den Bauren auch abgekauft haben. Giebt man uns verweise, so haben wir so sehr gute Gründe uns zu rechtfertigen, daß wir nicht nöthig haben weder in einem verdrießlichen, noch niederträchtigen Ton, die Beschuldigungen abzulehnen.

Ich glaube nicht zu viel zu sagen, daß ich, wenn ich hier am Ruder säße in wenig Jahren den Grund zu einem sehr hohen und dauerhaften Wolstand legen könnte. Es fehlt unsern Leüthen zum Theil an Einsichten ins Große, zum Theil aber an Thätigkeit und wahrer Arbeitsamkeit. Indeßen muß man hoffen, daß sich nach und nach etwas beßere. Ich werde nicht müde werden, das Gute so weit ich es einsehe gelten zumachen.

Alle unsre Freünde grüßen Sie. Ich schreibe dieses im Angesicht des Hrn. Helffers und Rectors, der Ihnen auch da, wo Sie an ihm etwas auszusezen haben könnten recht giebt.

Ich umarme Sie und verbleibe der Ihrige. S.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Anschrift

Herrn Profeßor Bodmer in Zürich

Vermerke und Zusätze

Zwei Siegel. – Blatt an Siegelstelle abgeschnitten.

Eigenhändige Korrekturen

so viel wichtige Gedanken
so viel wichtige Ver Gedanken

Stellenkommentar

wegen des Wülflinger Geschäftes
Die Herrschaft Wülflingen bei Winterthur gehörte seit 1734 einer Linie der Zürcher Familie Hirzel und gelangte 1755 an den Erben Salomon Hirzel (1719–1791). 1760 löste der Kanton Zürich die Herrschaft auf und verkaufte bis auf das im Besitz Hirzels befindliche Schloss die umliegenden Güter.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann