Brief vom 4. Dezember 1762, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 4. Dezember 1762

den 4ten Xb. 62.

Ihr Brief vom 30. vorigen Monats ist mir erst den dritten dieses zugekommen. Aber der vom 3ten habe ich heute empfangen. Ich hatte geglaubt daß sie so in ihre ästehtischen Contemplationen vertieft werden, daß sie auf andere sachen nicht Achtung gäben. Wir leben gerad izt hier in einer kleinen staats crisi. Ohne zweifel ist die Klagschrift über die Regierung des landvogt Grebels, die hier auf allen gaßen häufig ausgestreut worden, auch bis zu ihnen gekommen. Gestern war der geheime rath versammelt. Ich weis nicht ob Mhh. den vortrefflichen gebrauch davon machen werden, den sie könnten um die liebe und das zutrauen ihrer bürgerschaft zu erhalten. Sie wollen dise schrift für informel und pasquillantisch ansehen und ihr darum allen Glauben und alle untersuchung verweigern. Sie möchte aber informel und doch keine pasquinade seyn. Dises würde erst die Untersuchung zeigen.

Sie haben in ihrem lezten stark gesagt, was ich eben so stark allein gedacht hatte. Sie lesen in meinem kopf und empfinden mit m. gefühle.

Ich wollte von der Regel, daß ein mensch nicht mit sich selbst contratiren kann einen gebrauch gegen eine von unsern großen raths sazungen machen, die alle arten von nachdiensten der Amtmänner verbietet, und den der nur davon anregung thut zum voraus verurtheilt.

Wegen des Wülflinger kaufes muß ich ihnen zur Nachricht sagen, daß wir hier selbst das Chorherrenstift eine todte hand heißen, und ihm nicht gestatten ohne bewilligung nur ein Haus in unserer stadt zu kaufen. Ihren particularen von Winterthur will niemand verbieten von des Obristen Gütern zu kaufen aber ihrem spital wird man dises nicht gestatten, und ich sehe nicht, daß sie darüber schreyen können, warum will man uns in unsere Rechte eingreifen, da man so laut auf die beschüzung seiner eigenen ruft?

Sie haben unsern doctor durch einige Zeilen, die ihn betrefen, sehr angefeuert, aber sponte currenti calcar addidisti.

Die zween junge Geistlichen sind sehr zufrieden, wenn Hr. Spalding ihnen nur erlaubt, sich in ein der nächsten häuser einzuquartiren, und ihn in seinen müßigern stunden zu besuchen.

Sie haben nicht nöthig die bücher der bibliothek auf das neue jahr zurükzuschiken, behalten sie dieselben auf ihre gelegensten stunden.

Ich bin so eifrig auf die Noachide, als sie auf die ästetik seyn mögen. Gut, wenn ich bey einer künftigen Conferenz meine sachen so geschikt rechtfertigen kann, als sie die ihrigen.

Von dem Gesuch des französischen Hofes ist nichts weiter bekannt worden. Vormals hat sich etwan von schritt zu schritt so unvermerkt embourbirt, daß man sich über sich selbst verwunderte, als man sich mitten drinnen sah. Ich bin ihnen nicht gut dafür daß es nicht wider so komme.

Man hat mich gefragt ob nicht der vater des Hrn. von Arnim ein herr von großen Einsichten und Verdiensten gewesen sey, der aber wegen lähmungen im dienst des Königes nicht hat gebraucht werden können.

Gewiß ist ihnen das Journal Helvetique de neufchatel unbekannt; wenn sie den October gesehn hätten, so hätten sie ein stüke darinn gefunden, das ihrer aufmerksamkeit werth gewesen wäre.

Man sagt hier daß der große querelleur, et bateur, wider eine querelle anfangen wolle, nemlich mit Engelland. Der Dr. von Trogen wird mehr arbeit bekommen seinen helden zu verfechten. Indeßen will ich mich mit dem behelfen, was mir einen Wiz in den sinn geben wird.

Meines liebsten ästhetischen Contemplators
Ergebenster
Bo.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b.

Eigenhändige Korrekturen

den October gesehn
den nov October gesehn

Stellenkommentar

Klagschrift über die Regierung des landvogt Grebels
[J. C. Lavater], Der ungerechte Landvogd oder Klagen eines Patrioten, 1762. Felix Grebel, Zürcher Patrizier, war seit 1755 Landvogt in Grüningen. Von Einwohnern der Landvogtei erhobene Beschwerden über Missbräuche in Grebels Regierung und der Verwaltung der öffentlichen Gelder veranlassten Johann Caspar Lavater und Johann Heinrich Füssli dazu, seine Amtsmissbräuche in Zürich bekannt zu machen. Die Studienfreunde, die erst im Frühjahr 1762 ordiniert worden waren, legten die privat gedruckte und nicht unterzeichnete Schrift in der Nacht vom 29. November 1762 in versiegelten Kuverts bei 50 Magistratspersonen vor die Haustür. Vgl. dazu Lavater Jugendschriften 2008, 1, S. 39–77, hier vor allem S. 61. Die sogenannte Grebel-Affäre führte zur Aufdeckung der anonymen Verfasser und zu ihrer ersten Berühmtheit als engagierte Patrioten und Republikaner. Das Gerichtsverfahren zur Anklage Felix Grebels, der als Mitglied einer Patrizierfamilie und als Schwiegersohn des Bürgermeisters H. J. Leu besonderen Schutz im Stadtrat genoss, dauerte bis zum März 1763. Vgl. auch die Briefe letter-bs-1763-02-25.html und letter-bs-1763-03-02.html.
pasquinade
Pasquill, Schmähschrift.
mit sich selbst contratiren
Aus dem Frz. abgeleitete Wortschöpfung: »mit sich selbst einen Vertrag schließen«. Anspielung auf den Brief letter-bs-1762-11-27.html.
sponte currenti calcar addidisti
Plin. epist. I, 8, 1. Übers.: »Du hast also dem Renner noch einmal die Sporen gegeben« (Plinius, Briefe, 2003, S. 21).
embourbirt
Verstrickt.
der vater des Hrn. von Arnim
Abraham Wilhelm von Arnim auf Boitzenburg, Vater von Friedrich Wilhelm von Arnim, der Bodmer im Oktober 1762 besuchte. Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1762-11-15.html. Trotz seines lebenslangen schlechten Gesundheitszustandes, der eine politische Karriere verhinderte, hatte sich Abraham Wilhelm von Arnim Verdienste in Handel und Industrie erworben. (Arnim Friedrich Wilhelm Graf von Arnim 2005, S. 16).
den October gesehn
Vgl. Brief letter-bs-1762-11-02.html.
der große querelleur, et bateur
Der französische König Ludwig XV., der hier der »Streitsüchtige« und der »Schläger« genannt wird.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann