Brief vom 30. November 1762, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 30. November 1762

Ich bin Ihnen, Mein unschäzbarer Freünd, für die Überschikung der verlangten Bücher sehr verpflichtet und werde trachten, sie Ihnen, nach den Gesezen der Bibliothek vor Ende des Jahrs wieder zuzustellen, wie wol die genaue überdenkung der scharffsinnigen Säze, des sogenannten Demetrius Phalereus eine ziemliche Zeit erfodern werden, da ich nur die Nebenstunden dazu brauche, denn die beste Zeit muß ich auf das Aufschreiben und entwikeln der schon gesamelten Gedanken wenden, damit mein Werk nach und nach würklich aufgebaut werde. Es kommen mir täglich Dinge vor, über welche ich ihren Rath und ihre Einsicht nöthig hätte. Aber ich verspahre alles auf eine künftige Conferenz, dazu ich, wenn Sie es mir verstatten, meine Aufsäze mit bringen werde. Noch dauert das Feüer zur Arbeit, wie wol es manchen Tag, bald wegen der Schwierigkeit der Materien, bald wegen Mangel der nöthigen Beyspiele zur Erläuterung meiner Beobachtungen und Regeln, bald aber wegen einiger Trägheit des Körpers, wenig ausgiebt. Wenn ich nicht in der Größe der Arbeit selbst eine Ermunterung fände, so würde ich schon ofte das ganze Vorhaben haben fahren laßen.

Die zween junge Geistliche, wovon Sie mir schreiben sind mir durch unsern Waser auf die vortheilhafteste Weise bekannt. Es wird mich freüen, die Reise mit Ihnen zu thun, wie wol ich große Schwierigkeiten vorsehe, den Hrn. Spalding zu vermögen, sie in sein Haus zu nehmen. Aber sehen und kennen sollen Sie ihn gewiß, und dieses soll ihre Hochachtung für ihn noch vermehren. Es ist vielleicht eben so gut, daß Geßner durch die Engländer etwas Waßer unter seinen Wein bekommen, als daß Dr. Hirzel von den Franzosen etwas angefeüert wird. Ich erwarte von dem lezten sehr viel gutes, und sehe mit Verlangen der Zeit entgegen, da er unter den 50 oder den 200 sizen wird. Die Rechtsfrage, die Sie mir vorlegen, hat Rousseau in seinem Contrat Social zum Überflus beantwortet. Aber wozu dienet es Tyrannen das Recht und Unrecht vorzuhalten. Hören sie darum auf nach Willkühr und Leidenschaften zu handeln?

Es komt mir vor, als wenn Sie mir mit dieser Frage etwas mehr als eine bloße Speculation haben vorlegen wollen. Man hat zwahr hier keine besondere Gelegenheit bekommen, weder über jene Frage, noch über das Recht etwas in todte Hände zu erwerben, besonders nachzudenken. Vielleicht aber geht man damit um uns diese Gelegenheit zu geben. Aber wozu wird uns Einsicht oder Recht helffen? Es scheinet beschloßen zuseyn, daß die kleinen souverains den Großen in der Tyranney nichts nachgeben wollen. Sie werden ihre Größe niemals da suchen, wo sie sie finden könnten. Daran wär uns auch eben so sehr viel nicht gelegen, wenn wir nur klug und weise genug wären, von dem, was man uns verstattet und immer verstatten muß, den besten Gebrauch zu machen. Ich habe darüber ofte die angenehmsten Vorstellungen, aber es sind nur Träume, wenigstens nimt man sie mir für nichts wichtigeres, als für solche ab. Ich habe den Einfall gehabt ein kleines politisches Testament hier in guten Händen zurük zu laßen. Es ist gewiß, daß wir Freyheit und Kräfte genug haben unter unsers gleichen eine ansehenliche Figur zu machen, und daß die, welche uns dieses mißgönnen würden, weder geschikt noch stark genug sind, dieses zu hindern, so schlecht auch ihr Wille seyn mag.

Haben Sie denn von dem Gesuch des franz. Hofes nichts weiter erfahren? Da ihre Regenten keinen Tag ausschreiben, welches vielleicht das beste gewesen, das sie hätten thun können, so vermuthe ich, daß sie etwas tieffer in die Falle gegangen, in welche sie den Kopf schon gestekt hatten. Ich glaube, daß bey denen, die nicht regieren noch Kräfte genug übrig wären, sie rükwerts wieder heraus zu ziehen, wenn die Gelegenheit dazu sich ereignen sollte. Ich nehme alle diese Dinge zusamen, und mache sie gelten, wenn ich an meine künftige Abreise von hier denke. Denn dadurch werde ich gegen das schmerzhafte, das der Abschied von meinen Freünden hat, gestärket, und sage mit dem Apostel: Siehe so wenden wir uns zu den Heiden.

Im übrigen aber bringe ich hier meine Zeit so vergnügt zu, als ich es nur wünschen kann. Ganz nach meinem Sin, ohne allen Zwang, und alle müßige Stunden, werden mir von unsern Freünden versüßet. Nur die festlichsten Tage erwarten wir von Ihnen. Es würde mir was großes abgehen, wenn ich so lange hier seyn sollte ohne Sie unter uns zu sehen.

Der Hr. Helffer kann sich der 4 lettres de Brown gar nicht erinnern, aber er wird sich alle Mühe geben sie aufzusuchen. Klein Jogg ist auch in Berlin und Magdeburg bekannt. Aber wir Deütsche fühlen nichts mit der Lebhaftigkeit der Franzosen. Ich umarme Sie, nicht mit deütschem, auch nicht mit französischem, sondern mit einem mir eigenen Gefühl.

S.

den 30 Nov.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Eigenhändige Korrekturen

ich schon ofte
ich |schon| ofte
was man uns verstattet
was man uns immer verstattet

Stellenkommentar

des sogenannten Demetrius Phalereus
Das dem Aristoteles-Schüler Demetrius von Phaleron zugeschriebene Werk griechischer Rhetorik, lateinisch unter De Elocutione überliefert, macht mit 331 Thesen den Hauptteil der von Sulzer verwendeten Sammlung aus. (Vgl. T. Gale (Hg.), Rhetores selecti, 1676, S. 1–177).
50 oder den 200
Im Kleinen oder im Großen Rat der Stadt Zürich. Der 1725 geborene Hans Caspar Hirzel wurde 1763 in den Großen und 1778 in den Kleinen Rat gewählt.
in todte Hände
Vgl. Brief letter-bs-1762-11-27.html.
dem Gesuch des franz. Hofes
Vgl. Brief letter-bs-1762-11-11.html.
Siehe so wenden wir uns zu den Heiden
Siehe Apostelgeschichte 13, 46.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann