Brief vom 22. Dezember 1773, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 22. Dezember 1773

Die Besorgnisse, die sie haben, mein liebster, daß meine Heiterkeit des gemüths geschwächt seyn möchte, und die aufmunterungen, die ich von Ihnen empfange, haben mich sehr bewegt, denn es sind die lebhaftesten Ausdrüke Ihrer zärtlichen Freundschaft. Die zerstreuungen müssen stark seyn, die mich einige Augenblike die betrachtungen die Sie machen, vergessen lassen. Doch ist es stärkung, wenn Sulzer mit mir denket. Unser director Schuldheß glaubt, daß Sie sich in der andern Welt noch in bessere Gesellschaft hätten sezen dürfen, als des Socrates. Ich sagte, daß es Ihre Bescheidenheit gewesen sey. Es wäre nicht artig wenn man sich beym gastmal in die obersten size sezete. Sie aus Ihrer zärtlichen unruhe zu sezen muß ich Ihnen sagen daß sie ziemlich überflüssig gewesen sey. Meine liebste ward von Colik mit heftigen schmerzen befallen; die bey mir ein Mitleiden verursacheten, das in seiner Art nicht weniger schmerzhaft war. Daher meine Klagen. Sie hat sich für ihre umstände wol erholet, und wir leben so sanft als wir kaum fodern dürfen. Hartman hat mir dise 3 monate versüsst. Er kann Ihnen einmal erzählen daß ich noch proben von heiterm Kopfe geben kann, wie Sophokles in s. Alter gegeben hat.

Ich hab ihn zum vertrauten meiner Critik und meines Geschmaks gemachet. Der junge mann denket in meiner philosophie und empfindet nach meinem Herzen. Es ist ein phænomenon, daß in Tübingen ein Mensch von so souverainer liebe für Wahrheit, Rechte, Pflichten, hat aufkommen können. Lavater hat ihm nicht einen fuß breit abgenommen, vielmehr hat er selbst Lavatern wankend gemacht. Wir hoffeten alle posttage Nachrichten wegen Mitau. Izt ist er nach haus gegangen. Der Canzler und Consorten von Tübingen haben in seinem Sophron hier und da sich selbst erkannt, und ihn dafür anpaken wollen; er hat aber sich ihnen glüklich entzogen. Er hat Breitingern vernachlässiget aber desto mehr den Autor des Lebens Jesu besucht, den sanftesten Autor den man sich denken kann. Die Psychologie ist seine Stärke. Er ist mir schäzbarer als Klopstok wegen seiner philosophie, und schäzbarer als Wieland wegen seines Herzens. Er hat weder die Hyperbolen des sentimentalen stils des Ersteren, noch die leichtsinnige laune des andern.

Man hat mir von Carrart alles gute in Absicht auf Wissenschaft und auf Herz gesagt; aber man hat gezweifelt, daß er sein Vaterland verlassen werde, weil er in guten Glüksumständen steht, und einen Bruder hat, an den er attachiert ist. Wenn er die stelle ausschlägt, so lassen Sie Wegmann nach Berlin kommen und lernen ihn durch sich selbst kennen.

Für Müller laß ich Irmingern sorgen, der es kann und will. Ihn in unserm Gymnasio zu versorgen verwehrt uns der Nepotismus.

Die Fortsezung Ihrer theorie macht uns grosse hoffnungen, daß die deutschen bald von der Anticritik und Antiphilosophie zurükkommen. Schlözer hat Herders pedantisme derb genug gerügt. Wiewol er ein Universitäten Mann ist so hat er doch bonsens übrig. Die furchtsame Indulgenz der Männer von Ansehn hat die Kloze und Herder verwöhnt. Wenn es nicht furcht gewesen so hat man sich zu viel auf die güte und stärke der wahrheit und des geschmakes verlassen. Die Herder, Göthen, zählen jeden zu ihrer partey der nicht wider sie ist. Lavater hat für Herdern eine unbegreifliche Hochachtung.

Finden sie auch, wie Einer der unsern, daß in Gessners Abel viel leere phraseologie sey? Es sollte mir leid seyn.

Adelung ist vortreflich, wiewol er dreymal kürzer seyn würde, wenn er die Natur der metaphern besser verstände.

Ist es wahr daß Pilati bey Ihnen ist. Ich liebe diesen Mann wegen seiner Wahrheitsliebe. Was halten sie von Beccarias Werke vom styl? Ein transcendentales ding! Lavater macht grossen aufwand, Zeichnungen von wunderlichen köpfen zu haben. Er ist in seine Physiognomik versenkt.

Sie m. liebster verdienen so gut zu leben bis sie ihre theorie vollendet haben als Klopstok fodern dürfe nicht eher abzuscheiden, bis er die Messiade zu Ende gebracht habe.

Wir haben zween sätze oder Richter und zween sachwalter in Einsideln, und Schwyz eben so vile derselben. Das dominium directum et eminens lacus wird uns streitig gemacht. Wenn die moyens der Schwyzer publicirt würden so müsten wir uns für sie schämen. Dennoch stehen wir in gefahr vieles zu verlieren. Gott verhüte daß man nicht eines tages zum Rechten seze, wir sollen unsere Ringmauern, Wellenberg, und Kezerthürme schleifen, damit wir wie Schwyz ein offener plaz werden. Bern hat eine eifersüchtige freude uns geplaget zu sehen. Wir könnten bald unsern Bürgermeister Landolt verlieren. Die Rede ist Orell der sekelmeister würde zu dem Consulat gelangen. Er hat auram popularem. Hr. statthalter Escher hat zu viel Roideur für Rechte und Pflichte.

Der Cimon, den Schirach in seinem Magazin publicirt hat, ist nichts als eine Ebauche, die ich vor 30. jahren dem pastor Langen geschikt, daß er sie ausbildete. Seitdem hab ich sie selbst ausgebildet und Hartmanne gegeben.

Dr. Hirzel hat sich gänzlich von mir veräussert. Nur wenn ich ihm ungefähr begegne, wechselt er ein paar Einfälle mit mir. Das publicum muß nicht fürchten daß ich es mehr mit gedrukten schriften heimsuche. Orell Geßner und Comp. nehmen nichts mehr von mir zu verlage; selbst die Fortsezung der Ilias nicht.

Vergessen sie doch den Artikel Dialoge nicht! Man weis nimmer was die Kunstrichter wollen wenn sie sagen ein stük sey gut oder nicht gut dialogirt. Gemeiniglich sagt man, der dialog muß abgebrochen und schnell seyn. Giebt es nicht scenen in welchen diese beyden qualitäten die schlimmste Würkung thäten? Kömmt es nicht auf den Charakter der Redenden an, auf ihre umstände ob die Antworten lang oder kurz seyn sollen? Wenn die umstände einer scene dem autor die freiheit lassen, den dialog zu trennen oder nicht, so ist er ungeschikt, wenn er ihn nicht trennt.

Seitdem Göthen uns Gözen mit dem eisernen Arm gegeben hat, so werden sie auch etwas von den drames par tiroir sagen müssen, von den stücken wo aus dem leben eines helden ein Duzend der auffallendsten situationen ausgezogen und ohne Kitt zusammen geworfen werden.

Ich habe vor zwanzig jahren dergleichen gemachet

Arnold von Brescia in Zürich.
Schöno, der bürgermeister von 1390.
Brun, der erste, der die Zunft eingeführt hat.
Die gerechte Zusammenschwörung, von Staufacher, Fürst, Melchtal.
Schwyz über dich Zürich, d. i. die Übelthaten des einheimischen Krieges von 1430–1440. wegen der tokenburgischen händel.

Doch dise stüke sind nur für das Cabinet geschrieben, und es ist immer mehr verbindung darinn beobachtet, als im Götzen von berlichingen. Stüke von politischem Inhalt haben allemal mehr gelegenheit zu berathschlagungen und darum kann mehr Ausdähnung im dialog, selbst mehr declamation da plaz haben. Wenn das stük dadurch weniger lebhaft wird, so hat es desto mehr Ernst.

Hr. Reich hat mir seinen geschmak verdächtig gemacht, da er den geistlichen don Quixote übersezen lassen. Wie weit ist diser von XXX selbst von Nothanker entfernt! Ich habe noch mehr anzeigen, daß Reichs geschmak nicht zu befestiget ist. Doch diese leute sind wie ihr publicum von dem sie abhängen.

Was für ein unedler Krieg, den der Poet der Messiade mit dem Verleger führt! Wielanden wollen wir dise querelle noch verzeihen, dem autor des Idris und Amadis, der freilich um des Lohn schreibt.

Ich bleibe

unaufhörlich
Ihr Bo.

den 22. christm. 1773.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b. – E: Goethe Jahrbuch 5, 1884, S. 187 (Auszug).

Anschrift

A Monsieur Soulzer professeur et de l'academie royale. Berlin franche Nurnberg.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers auf der Umschlagseite: »den. 22 Dec. 73.« – Blatt in der Mitte zerrissen. – Siegelreste.

Lesarten

desto
Textrekonstruktion nach Ms Bodmer 20.9–11.
sanftesten Autor
Textrekonstruktion nach Ms Bodmer 20.9–11.
seine
Textrekonstruktion nach Ms Bodmer 20.9–11.

Eigenhändige Korrekturen

Bescheidenheit gewesen sey.
Bescheidenheit gewesen wäresey⌉.
wie Sophokles
wie Socrates Sophokles
des sentimentalen stils
des sentimentalen herzensstils
Die Herder, Göthen,
Die Herder, Göze Göthen,

Stellenkommentar

Canzler und Consorten
In den Jahren 1772 und 1773 waren Gottfried Ploucquet und Sixt Jakob von Kapff Kanzler der Universität Tübingen.
hat mir von Carrart
Brief oder andere schriftliche Quellen, aus denen Bodmer die Informationen hatte, nicht ermittelt.
Schlözer hat Herders pedantisme derb genug gerügt
Im zweiten Band seiner Vorstellung der Universal-Historie, 1773, griff Schlözer Herder, der ihn vorab in einer Rezension des ersten Bandes in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen vom 28. Juli 1772 ebenfalls attackiert hatte, wiederholt scharf an. Schlözer kritisierte, dass Herder »bekanntlich so wenig ein Historiker, als ich ein Belletriste« (S. 1) sei und »Der gute Leser soll glauben, Hr. Herder wisse alles, teils was bisher schon in der Weltgeschichte geschehen, teils was künftig noch darinn geschehen müsse!« (S. 266). Zum Streit zwischen Herder und Schlözer vgl. Fulda Wissenschaft aus Kunst 1996, S. 191–200.
Adelung ist vortreflich
Johann Christoph Adelungs Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, das ab 1774 erschien.
daß Pilati bey Ihnen ist
Carl Antonio Pilati war nach Berlin geflohen, erhielt dort eine Pension von Friedrich II., ließ sich aber bald wieder in seiner Heimat Graubünden nieder.
Beccarias Werke vom styl
Cesare Beccarias unvollendet gebliebenes Fragment Ricerche intorno alla natura dello stile, 1770.
unsern Bürgermeister Landolt verlieren
Hans Kaspar Landolt war von 1762 bis 1778 Bürgermeister.
Orell der sekelmeister
Hans Heinrich Orell, Seckelmeister seit 1760.
Roideur
Übers.: »Steifheit«.
Cimon
J. J. Bodmer, Cimon. In: Magazin der deutschen Critik, 1773, Bd. 2, S. 101–123.
Ebauche
Übers.: »Skizze, Entwurf«.
dem pastor Langen geschikt
Vgl. Brief letter-bs-1746-12-01.html.
Fortsezung der Ilias nicht
Homers Werke. Aus dem Griechischen übersetzt von dem Dichter der Noachide erschien schließlich doch 1778 bei Orell, Gessner, Füeßlin und Compagnie in zwei Bänden.
den Artikel Dialoge nicht
Einen eigenen Artikel »Dialog« gibt es in der AT nicht. Allerdings geht Sulzer u. a. in den Artikeln »Oratorium«, »Prosa, Prosaisch« und »Politisches Trauerspiehl« darauf ein.
drames par tiroir
Von frz. »tiroir«: Schublade. Der französische Zusatz »à tiroirs« oder »par tiroirs« bezeichnet Dramen, in denen die klassische Einheit von Zeit, Ort und Handlung nicht eingehalten wird, sondern mehrere Episoden aus einem breiten historischen Stoff aufeinanderfolgen. Bodmer verfasste selbst politische Trauerspiele in dieser ursprünglich negativ besetzten Dramenform, wie sein Schöno, ein Trauerspiel, à Tiroirs bereits 1761 zeigt (ZB, Ms Bodmer 26.2.I). Bodmer wusste wohl, dass ein Drama durch diese Diversität zugleich für die Aufführung nicht geeignet war und eben zum »Schubladenstück«, also zu einem anspruchsvollen und nicht aufführbaren Werk, werden musste (vgl. A. Beise, Geschichte, Politik und das Volk im Drama des 16. bis 18. Jahrhunderts, 2010, S. 258–260). Durch die zahlreichen Handlungs- und Ortswechsel brach Goethes Götz von Berlichingen 1774 noch deutlicher mit der klassischen Regeltheorie.
da er den geistlichen don Quixote übersezen
Johann Gottfried Gellius hatte Richard Graves Der Geistliche Don Quixote, oder Gottfried Wildgoosens den Sommer über angestellte Wanderschaft übersetzt, der 1773 im Verlag Weidmanns Erben und Reich erschien.
unedler Krieg
Klopstocks Auseinandersetzung mit seinem Verleger Hemmerde über die zeitliche Befristung von Rechten, die schließlich zur Selbstverlagsidee seiner Deutschen Gelehrtenrepublik führte. Vgl. dazu Martus Werkpolitik 2007, S. 248.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann