Brief vom 27. Oktober 1773, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 27. Oktober 1773

Sehr vermuthlich, mein theuerster, hat Wegmann Ihnen aus Engelland zugeschrieben. Also wissen sie wie anständig ihm die adjuncten stelle wäre; sie können auch aus seinem schreiben Winke nehmen, wie anständig Er dieser Stelle seyn möchte. Er hat genie, Wissenschaften, viel kenntniß der Welt; ist in dem Umgang angenehm, hat wolredenheit, ist ein freund; voller Ehrliebe; begierig nach neuen Kenntnissen, scheut Arbeit und lucubrationen nicht; von geseztem alter, 38. jahren. Sein vater sel. war des grossen Rathes, neulich ist sein bruder es geworden; der pfarrer Dürsteler s. dessen sie sich vielleicht erinnern war sein großvater von der Mutter. Er stand in seinen jüngern jahren als Informator etliche jahre bey einem Santgallischen Kaufmann in Marseille, hernach kam er zurük nach Zürich; hier hatte Hr. bürgermeister Heidegger ihn in Gedanken bey der neuen Kunstschule ihn zum professor der Historie und geographie zu machen; da aber die Errichtung dieser schule sich immer verzögerte, nahm er gegen ein ungewöhnlich reiches gehalt die hofmeisterstelle bey einem richard im pays de vaud an. Er konnt es unvergleichlich mit dem baron, doch dieser starb und sein Eléve starb. Eine lebenslänglich jährliche pension war ihm ausgemacht, von gulden Fünfhundert. Er ist nach Engelland gegangen die Nation kennen zu lernen und sich in ihrer sprache fest zu sezen. In unserer stadt steht nichts anständiges für ihn offen. Liebe zu geschäften und zu Ehren lassen ihn nicht sich selbst, ohne Emploi, leben.

Hier war er von meiner Helvetisch Zürcherischen Gesellschaft, und einer von den besten. Er hat lebensart und manieren, welche unsere Zürcher gewöhnlich nicht haben.

Sie mißdeuten mir nicht, daß ich lieber einen Zürcher als einen Vaudois bey ihnen und bey der Academie haben wollte. Er ist insinuant, ungleich mehr als Lambert, Wegeli, Müller. Ich fürchte noch, der von Hr. Haller vorgeschlagene Carrard sey nicht für sie.

Hr. von Haller hat zwey neue Gedichte in prose unter der presse, Alfred König der Angelsachsen, und Cato und Fabius, beyde von politischem Inhalt. Man verspricht sich, daß sie seinen Usong weit übertreffen. Er hat freye, müssige, stunden zu disen arbeiten, bey aller mühe, die seine bibliotheca Medica von ihm fodert. [→]Er ist glüklich daß Herder, der denaturirte Encomiast der Natur, der gekünsteltste scribent, der gegen die Kunst und Künsteley noch geschrieben hat, – ihn lobet und schäzet. Sie selbst, mein liebster, sind ganz [→]in der Ungnade des Verfassers von deutscher Art und Kunst, und von deutscher Baukunst. Ich lese dise schriftchen als charakteristiks des deutschen originalgenies, und wie sehr ich mich über den verstigenen Wiz des Verfassers aufhalte, so verwundere ich mich noch weit mehr über das publicum, dem dieser Wiz gefällt.

Riedel schreibt aus Wien an unsern Lavater, er habe opera omnia von Winkelmann unter der presse, er bittet ihm um subscriptionen. Aber wir sind schon vor dem Wort opera omnia erschroken.

Hartmann ist noch hier und in seinem Elemente. Er würde doch noch besser mit unsern besten bekannt und vertraut worden seyn, wenn ich nur 5. jahre weniger auf meinen schultern hätte. Meine gehülfin und haushälterin verwelket. Wir beyde beten nicht um Verlängerung des lebens, aber ganz ernstlich um ἐυθανασιαν, um einen Tod ohne qual. Ich habe ihnen schon gesagt, daß ich gern wollte gestorben seyn, aber daß ich nicht gern sterbe, weil ich sterben für Qual und Schmerzen leiden mir vorstelle.

Haben sie keine Neugier Wielands Anticato zu lesen? Sie würden doch Cäsars lesen, wenn er da wäre. Warum schreibt Haller selbst für Tugend, sitten, und wahre Freude nicht mit dem Reize, wie Wieland für die gespenster derselben?

Haben sie noch keine Winke von einem Liscow, der main basse über die sophisten der Wollust und des Witzes machet?

Ich umarme sie von ganzem Herzen.

Ihr Bodmer

Zürch den 27sten WeinM. 1773.

Ich habe Engels comische opern gesehn. Sie sind moralisch genug; aber einem Mann von Ernst steht übel an, viel Zeit zur vergnügung eines parterre anzuwenden, welches freude an so kleinen kindischen scherzen hat. Und was für barroquer geschmak, daß diese niedrigen scherze in Ariae gesezt sind, und abgesungen werden! Engel sollte sich hierüber weggesezet haben.

Ich habe das alles nicht mit dem ruhigsten herzen geschrieben. Doch ist der Artikel von Wegman wol abgewogen.

Die Cantons sind in Baden versammelt die Capitation unserer Kaufleute in Frankreich zu hintertreiben; dem prälat von Santgallen die Hoheit über gewisse Dörfer im thurgau die er usurpirt hat, zu nehmen, den gebrauch unserer Regimenter in französischen Diensten in Corsika abzustellen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Anschrift

A Monsieur Soulzer professeur et de l'academie des sciences à Berlin franche Nrnbg.

Vermerke und Zusätze

Paginierung von Bodmers Hand. – Vermerk Sulzers auf der Umschlagseite: »27 Oct. 73.« – Blatt in der Mitte zerrissen. – Siegelreste.

Eigenhändige Korrekturen

Also wissen sie wie
Also wissen ⌈sie⌉ wie
nahm er gegen ein
nahm er unter gegen ein
bey der Academie haben wollte.
bey der Academie ↑haben wollte↑.

Stellenkommentar

hat Wegmann Ihnen aus Engelland zugeschrieben
Brief Gérard Wegmanns, dessen Empfang Sulzer im Antwortschreiben vom 6. November bestätigt, nicht ermittelt.
pfarrer Dürsteler s. dessen sie sich vielleicht erinnern
Erhard Dürsteler, der seine Pfarrstelle wegen Ehebruchs aufgeben musste und anschließend in Zürich lebte, wo er sich mit dem Sammeln von Urkunden und historischen Dokumenten aus der Schweizer Geschichte beschäftigte.
bey einem richard im pays de vaud
»Richard«, frz. für einen reichen, wohlhabenden Mann. Gaspard de Smeth, seit 1767 Baron de Coppet, unweit Genf, starb 1771. Sein einziger Erbe verstarb ebenfalls kurz darauf, sodass der Landsitz einem ferneren Verwandten zufiel.
Cato und Fabius
A. v. Haller, Fabius und Cato, ein Stück der Römischen Geschichte, 1774.
seine bibliotheca Medica
Haller arbeitete in dieser Zeit an der Bibliotheca Medicinae practicae.
glüklich daß Herder [...] ihn lobet und schäzet
Herder hatte Haller in einem Brief an Merck aus dem Jahr 1771 den »geistvollsten Compilator des Jahrhunderts« genannt. Auch in den Fragmenten Ueber die neuere Deutsche Litteratur, in Von Deutscher Art und Kunst sowie in einem späteren Beitrag in der Zeitschrift Adrastea (Pope. Bollingbrocke, 1801) würdigte Herder Haller. Zu Herder und Haller vgl. Marbach Herder und die schweizerische Literatur 1954, S. 276–315.
Encomiast
Schönredner, Schmeichler.
in der Ungnade des Verfassers
Goethes Von Deutscher Baukunst enthält einige Seitenhiebe auf Sulzers Wörterbuch: »Als ich das erstemal nach dem Münster ging, hatt ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks. Auf Hörensagen ehrt ich die Harmonie der Massen, die Reinheit der Formen, war ein abgesagter Feind der verworrnen Willkürlichkeiten gotischer Verzierungen. Unter die Rubrik gotisch, gleich dem Artikel eines Wörterbuchs, häufte ich alle synonymische Mißverständnisse, die mir von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem jemals durch den Kopf gezogen waren.« ([J. W. Goethe], Von Deutscher Baukunst, 1773, S. 127). Im Gegenzug kritisierte Sulzer das von Herder herausgegebene Von Deutscher Art und Kunst, in dem Goethes Beitrag enthalten war, im Artikel »Nachdruck« der AT. Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1773-11-06.html.
Riedel schreibt aus Wien an unsern Lavater
Friedrich Justus Riedels Brief nicht ermittelt. Riedel gab Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums 1776 neu heraus. Vgl. dazu auch die Ankündigung in den von Riedel redigierten Erfurtischen gelehrten Zeitungen, 1773, St. 100, S. 832.
gehülfin und haushälterin
Bodmers 1696 geborene Ehefrau Esther überlebte ihren Mann und verstarb 1785.
ἐυθανασιαν
Griech. für »leichter Tod«, »Kunst zu Sterben«.
Neugier Wielands Anticato
[C. M. Wieland], Vorbericht zum Anti-Cato, 1773. Zudem Anspielung auf Caesars kurz nach dem Selbstmord Catos um 45 v. Chr. verfasste Schrift Anticato, die aus zwei Büchern bestand, jedoch nur in Fragmenten überliefert ist.
Engels comische opern
J. J. Engel, Die Apotheke, eine komische Oper in zwey Aufzügen, 1772.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann