Ich habe, mein Theürester, ihre beyden lezten Briefe vom 15 und 27 Oct. vor mir liegen, und muß von dem lezten anfangen, der, wie Sie mir sagen, nicht in völliger Gemüthsruhe geschrieben ist. O wie sehr kränkt es mich, daß Sie die Ihnen sonst so gewöhnliche, die so sehr verdiente und in ihren lezteren Tagen so sehr nöthige Heiterkeit des Gemüthes zu verliehren in Gefahr sind! Doch sehe ich nicht ein, woher diese Veränderung mochte gekommen seyn. Sollte die Annäherung des großen Schrittes, der Ihnen bevorsteht die Ursache davon seyn, o! mein Theürester, so hören Sie mich an; mich der ofte und noch kürzlich nicht nur in der gänzlichen Einbildung war, diesen Schritt den Augenblik zu thun; sondern um ihn würklich zu thun nur noch die kleine Bewegung nöthig hatte. Ja ich hab ihn in der Nähe gesehen, den Tod, hab ihm Tieff in den Rachen geschaut, und ihn bey Gott! nicht fürchterlich gefunden. Noch izt verliehre ich ihn nie aus dem Gesichte; denn noch immer scheinet es mir, daß er mit einiger Ungeduld auf mich warte. Da Sie mein Theürester Freünd, gestorben seyn für seelig halten, so ist es ein bloßes Vorurtheil, oder viel mehr eine blos Thierische Einbildung, horror animalis, daß das Sterben selbst, als etwas übels sich vorstellt. Es ist in Wahrheit nichts, als Einschaffen. Unter zehen Tausend sterbenden, empfindet es nicht einer, daß er stirbt, und die es empfinden, sind wenigstens ohne Schmerzen. Aber in ihrem Alter stirbt man nie gewaltsam; der Bau hängt schon so sehr, daß der kleinste sanfteste Stoß ihn ins Fallen bringt und währendem Fall ist wahrhaftig das Bewußtseyn schon weg, vom Stoß aber nichts zu fühlen. So starb noch ganz neülich einer meiner Bekannten in ihrem Alter. Mit völliger Munterkeit trank er seinen The; sezte die unausgetrunkene Schale nieder, gieng nach einem großen Lehnstul, weil er sich sehr matt fühlte; schlummerte da ein und wachte nicht wieder auf. So stirbt man gemeiniglich in ihrem Alter und bey ihrer nicht starken Leibesbeschaffenheit. Hier ist also nichts zu fürchten, und wär es, so ist das Leiden in einer halben Minute vorbey. Ich bin überzeüget, daß kaum ein Mensch lebt, der nicht schon ofte sehr viel mehr gelitten hat, als er bey seinem Tode leiden wird.
Darum seyen Sie fröhlich mein Theürester, und folgen Sie einem Rath bey deßen Befolgung ich mich sehr wol befinde. Je mehr meine Kräffte abnehmen, je mehr suche ich mir alle möglichen Arten von Vergnügen zu machen. Wenn ich noch ein Jahr lebe, so werde ich ein Epicuräer werden, wie wol ich es in meiner Jugend nicht gewesen bin. Aber ich will, wofern es Gott nicht anders verhängt, ich will vergnügt die Welt verlaßen, und, wie mir izt bisweilen geschieht, unter süßem Geplauder einiger Freünde, auch zum lezten mal einschlaffen. Und Sie mein geliebtester werden vermuthlich ohne Geplauder, aber unter angenehmen in Ihnen selbst erzeügten Phantasien einschlaffen, und denn – für das übrige sind wir beyde unbesorgt. Wo Sokrates und Cicero und Antonin und so viel brave Männer hingegangen, dahin mag ich gern auch gehen.
Ziehen Sie mich wieder aus der Unruh, die Sie mir gemacht haben. Denn es war eine meiner Glükseeligkeiten daran zu denken, daß Sie ein so vergnügtes Alter haben. Nun laßen Sie mich noch von andern Angelegenheiten Sprechen. Wegman hat mir aus London geschrieben. Aber warum sprachen Sie mir nicht vor ein paar Monaten von ihm, als ich ihnen schrieb, was für einen Befehl ich vom König erhalten hatte. Ich schrieb an Sie und an Haller zugleich; aber ihr Brief gieng 8 Tage früher, als der andre ab. Sie antworteten mir, aber kein Wort über den Punkt des Mannes den ich suchte, wenigstens kein Vorschlag. Haller empfahl mir den Carrard und weil ich nicht mag, daß der König von mir glaube, ich treibe die Sache nachläßig, so schrieb ich an Carrard, um ihm den Antrag zu thun. Noch hab ich seine Antwort nicht und deßwegen kann ich auch dem Wegman nicht antworten, weil ich nicht weiß, ob jener die Sach annihmt oder nicht. So stehet izt die Sache. Aber erster Tagen muß ich Antwort aus dem païs de Vaud haben; als denn werde ich wißen, was ich nach London antworten soll.
Ich erwarte täglich Hrn. Hartmans Beruff nach Mitau. Sagen Sie ihm doch, daß er vorläufftig sich eines der beyden Männer, die er zum Profeßorat der Mathematik mir vorgeschlagen hat eventualiter versichere.
Ich vermuthete aus der wunderlichen Schreibart, daß Herder der Verfaßer des Werkgens von deütscher Art und Kunst sey. Seine Abneigung gegen mich habe ich wol gesehen. Aber ich weiß in Wahrheit nicht, was die Leüthe wollen. Sie werden wo ich nicht irre im Artikel Nachdruk eine kleine Abfertigung dieses wunderlichen Menschen finden. Meine Arbeit geht noch gut fort. Izt drukt man im Buchstaben P. Ich hätte gewünscht Ihnen den Artikel Oßian noch zu schiken, aber ich erhielt ihn zu späth. Wenn ich, so wie ich izt bin den März erlebe, so werde ich ausruffen: inveni portum etc. Denn ich werde mich doch im Hafen glauben, was auch die Herder, und Wielande und Gotter sagen mögen. Lebe ich denn noch länger, so könnte ich mich wol entschließen ein paar ganz ernsthafte Worte öffentlich mit diesen Herren zu sprechen. Prof. Müller wird immer hypochondrischer. Ich wünschte sehr, daß man in Zürich etwas zu seiner Versorgung könnte ausgemacht werden; denn für diesen nordischen Horizont schicket er sich nicht.
Sie werden im dritten Band des Merkurs eine Epistel an die Starkgeister finden, die in einem ärgerlichen Ton geschrieben. Der Mensch spricht für die Religion in dem Tone, in welchem der leichtsinnigste gegen sie schreiben würde. Was wird noch zulezt aus diesem Unfug werden?
Wieland wird sich sehr viel Verdruß mit seinem Merkur machen. Der Nachdruker deßelben rechtfertiget sich auf eine Weise, die den Hofrath sehr in Harnisch bringen wird. Den Anticato habe ich nicht gesehen. Bald wird er vermuthlich auch einen Antisocrates schreiben. Ich glaube doch, daß sich mit der Zeit einige gute Köpfe gegen die Wielandische Schule erheben werden. Dann wird man sehen, ob dieser ein beßerer, oder schlimmerer Voltaire ist. Ich umarme Sie mein theürester von Herzen. Grüßen Sie Hartman und Lavater, deßen wenige Zeilen in Hartmans Brief mir viel Vergnügen gemacht haben. Leben Sie wol.
JGSulzer
den 6 Novemb. 73.
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.
An Herrn Profeßor Bodmer in Zürich frco. Nrnberg.
Vermerk Bodmers auf der Umschlagseite: »Habe Reichs P. empfangen.« – Siegel.