Brief vom 17. Oktober 1770, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 17. Oktober 1770

Kann man, mein theurester, in Spaldings Gesellschaft nicht munter, nicht gedankenvoll seyn? Unser gute Waser sollte bey Ihnen seyn. Hier muß ich aufgeräumet seyn nachdem ich Felix Hessen, Hessen von Neftenbach, Künzli, verlohren! Wir nagen, wie Sie dort, an der Schulreforme. Wir müssen sie den Meistern recht machen, von welchen Rousseau im Emile redet.

Sie sollen nicht fürchten daß ich Ihr Werk wie ein Nicolait beurtheilen werde. [→]Non ignarus mali miseris succurrere disco. Ich nenne mich selbst miserum in dem sinn wie die Hermes es waren, welche Alcibiades an Augen, Nasen, und Ohren gestümmelt hat. Wenn Sie den Klozen mit der schuldigen Verachtung begegnet sind, so halten sie sich nur gefaßt, von ihnen gegeisselt, angespien, gekreuziget zu werden. Mich kreuzigen sie monatlich. Ich will doch lieber so gekreuzigt seyn, als so von ihnen vergöttert, wie sie Wieland vergöttern; und die Vergötterung wie er verdienen. Quamquam nec mihi cornea fibra.

Die Noachide liegt in meinem Pulte vollkommener als sie aus der presse gekommen. Ich habe stellen verbessert, die niemand getadelt hat. Wenn ich sie erst machen müßte, so würde ich sie nach einem andern Ideal ausarbeiten.

Jüngst war ein Engelländer bey mir, Jodrel, ein Chevalier und Poet, der nicht begreifen konnte, warum ich das Sujet von der sündflut zweymal ausgeführt habe.

Lavater hat eine Ode auf Gott geschrieben, die von Ewigkeiten zu Ewigkeiten fortgehet. Klopstok würde sie nicht erfliegen. Sie ist unerfliegbar, unerschwinglich, unbesiegbar.

Ewig ist Gott, denn nicht ewig bin ich. –
Hast du gedanken, o Erster.

In dieser Ode sind Fleischnacht; Flammennacht; Nachtthal; staublied; Bilder versengende Geistigkeit; geistige sterblichkeit; Glutlicht der tröpfelnden Planeten; felsenreiches sandkorn; Fersen Jehovas; staubumwundene; tausendseelige Polypen.

Cruces Kloziorum et Nicolaorum! Sie werden ihn ⟨dafür⟩ selbst kreuzigen. Er hat Ramlern eine Ode geschikt in welcher er ihn wegen seiner mythologischen abgötterey bestraft. Er schont den critischen verleumdern und den epicurischen tändlern noch.

Ich hoffe sie sind mit meinem petit neveu zufrieden. Bereden sie ihn, daß er zu Zacharie, und Ebert gehet. Er sollte auch Jacobi sehen. Ich umarme Sie, mein liebster, und Spalding und Wegelin, und Müller p.

Bodmer.

den 17. Octob. 1770.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Anschrift

Pour Mr. le professeur Soulzer

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers auf der Umschlagseite: »17. Oct. 70«. – Siegelreste.

Stellenkommentar

Meistern recht machen
Vermutlich folgende Stelle im 13. Kap. von Rousseaus Émile: »Ihr werdet nicht des Kindes Vorbild und dadurch sein Meister sein, wenn ihr nicht zugleich Vorbild und Meister seiner ganzen Umgebung seid und dazu wird euer Ansehen nie hinreichend sein, wenn es nicht auf die der Tugend gebührende Hochachtung gegründet ist.«
Non ignarus [...] disco
Verg. Aen. I, 630: »Selber vertraut mit dem Leid, lern Leidenden nun ich zu helfen.« (Vergil, Aeneis, 2015, Buch 1, S. 81).
Hermes es waren, welche Alcibiades
Alkibiades, athenischer Staatsmann, Redner und Feldherr, soll im Jahr 415 v. Chr. Statuen des Gottes Hermes verstümmelt haben (sogenannter Hermenfrevel).
Jodrel, ein Chevalier und Poet
Richard Paul Jodrell. Näheres zu der Begegnung mit Bodmer nicht ermittelt.
Ode auf Gott geschrieben
J. C. Lavater, Ode an Gott, 1770. Die Ode, die als Einzeldruck im Verlag Orell, Gessner, Füeßlin und Compagnie erschien und den Zusatz »für geübtere Leser« enthält, umfasst 32 Seiten.
Ewig ist Gott
Stelle in Lavaters Ode an Gott, die eigentlich lautet: »Ewig bist Du: Denn nicht ewig bin ich!Ewig warst Du, Wesen der Wesen« (S. 4).
Fleischnacht
Ebd. S. 16.
Flammennacht
Ebd. S 19.
staublied
Ebd. S. 15.
Bilder versengende Geistigkeit
Ebd.
Glutlicht der tröpfelnden Planeten
Ebd. S. 19.
felsenreiches sandkorn
Ebd. S. 26.
tausendseelige Polypen
Ebd. S. 8.
Ramlern eine Ode geschikt
Vermutlich die Ode An den Herrn Professor Rammler in Berlin, zuerst publiziert in: J. C. Lavater, Vermischte Schriften, 1774, Bd. 1, S. 312–315. Darin kritisierte Lavater die mythologischen Themen in Ramlers Lyrik und mahnte ihn an, »Christenlieder« zu singen. Vgl. das dazugehörige Begleitschreiben Lavaters an Ramler, Zürich, 22. September 1770: »Verehrungswürdiger Herr Profeßor! Ich weiß, Sie verzeihen es meinem Herzen, daß ich beygefügte Ode an Sie gemacht habe, und kühn genug bin, Ihnen die Frage vorzulegen, ob Sie mir erlauben wollten, dieselbe einer Samlung von Oden der Tugend und Freündschaft gewidmet beyzurüken? Ich habe darinn nach meiner innigsten Überzeugung geredet; – diese Überzeugung ließ mich loben – und wünschen, oder tadeln. Ich denke es aber auf eine weise gethan zu haben, die nicht beleidigen, sondern gewinnen sollte. Dem ungeachtet bin ich aufrichtig bereit, mich in Ansehung alles deßen, was Sie unbillig oder fehlerhaft darinn finden sollten, belehren zu laßen. – Gott segne Sie, und erhalte Sie noch lange zur Ehre, der deütschen Dichtkunst und zur Freüde aller tugendhaften. Ich empfehle mich Ihrer schätzbaren Freündschaft, und versichre Sie nochmals meiner aufrichtigsten Hochachtung«. (ZB, FA Lav Ms 578.3–4).
mit meinem petit neveu
Bodmers Großneffe Johann Conrad von Orelli.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann