Brief vom 18. März 1770, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 18. März 1770

Zürch den 18. März 1770.

Meine Gedanken sind öfters bey Ihnen, mein liebster Sulzer, und meine person ist so selten bey unserem Schuldheiß Sulzer, und bey unserm Diacon Waser als bey Ihnen. Drey jahre war ich nicht in Winterthur und so lange hab ich den Schuldheiß nicht gesehen. Seitdem er sein Weib verlohren, zieht er sich in sein Haus und das rathhaus ein. Waser, der seine älteste Tochter verlohren ist sehr dunkel, sehr stille. Ich erkenne die güte des himmels, der in disem Alter meinen Kopf noch heiter und mein Herz noch freudig seyn läßt! –

Der Kammerer von Küßnach ist ganz überzeugt, daß die schrift sur l’origine des religions eine religiose schrift sey, la production d’un bel esprit. Er meint daß eine Apologetik, wie L'oiseau sie schreibt, die Richter nothwendig bewegen müßte ihre sentenz zu widerrufen. Er weiß nicht daß es Überzeugungen giebt, welche der seinen gerade entgegen stehen. –

Wir, die zweyhundert, haben die öconomischen Malversationen unserer beamten dem Amtmann Hofmeister von Küßnach auf den Rücken geworfen, ihn und sie haben wir in einem Cachot verschlossen, und ihrer soll in diser Zeitlichkeit mit keinem Wort mehr gedacht werden. Und izt verfassen wir eine neue oeconomie, die dem rechtschaffenen mann es unmöglich macht, sie zu übertreten. –

In erwägung daß unsere Bauern nicht nur unsere Heloten sondern auch unsere miliz und beschüzer sind, haben wir ihnen Exercitienmajore, blaue Röcke, und Knöpfe an den Röcken gegeben, die sie unsern Eids- und Bundsgenossen fürchterlich machen sollen; denn wir haben die Weisheit in der Maxime überlegt; sehet eure besten freunde für solche an, die morgen eure bösten feinde werden können.

Unser Minister am Wienerischen Hof hat in der Zeit eines jahres seinem referendario nicht zu verstehen geben können, daß wir eine Republik sind, er will uns nur für eine Stadt und Canton erkennen. Wir stehen noch in Furcht daß die bicoque Ramsen uns um 200. tausend Gulden nicht für ein feudum francum accordirt werde.

Unsere Schulreforme hat sich an der öconomischen und der militarischen Reforme accrochirt. Der Dr. Hirzel ist im grossen Rath der sprecher, er schreit würklich am lautesten, und so patriotisch als es der beyfall erlaubt.

Der Magistrat und die Citoiens von Geneve haben sich nicht entschliessen können ihre Heloten in den staat aufzunehmen. Izt wollen dise sich in Versois häuser bauen und lieber Heloten des grossen monarchen werden. Wenn sie hier keine freiheit mehr zu prätendieren haben, so beunruhigt sie die Furcht nicht mehr, einige zu verlieren. Und dieses ist nach Gatterer ein edles vorrecht der deutschen staaten.

Die Herren von Luzern haben den Göttlichen Meyer auf fünfzehn jahre von stadt und land verwiesen, doch daß er in diser Zeit selbst, seine Würden als rathsherr und die rathsherrlichen Einkünfte behalten soll.

Wieland ist sehr geschäftig den geprüften Abraham zu aviliren, und in der Zeit da er ihn verkleinert, ihn auf unsere Rechnung zu sezen.

Nach Lavater ist der Christ ein solch überirdisches geschöpf, daß er selbst ihn kaum mehr unter den sterblichen menschen erbliket. Der apostolische Nordalbingius, unser Waser – haben ihm umsonst geprediget, die querelle d’allemand mit dem Juden ist glücklich beygelegt. Beyde theile sind an ihren Ehren bestermassen verwahrt, und die ⟨scheltungen⟩ trägt der Kaiser. Unsere priester waren sonst entschlossen die Überzeugung mit sich zu bringen und nicht erst in den controversen der Kämpfer zu suchen.

Der Christ und der Jude könnten ihre Kräfte nöthiger gegen Voltaire anwenden. Sein neustes Werk Dieu et l’homme läßt Warburton, Houteville, Labbadie weder Ehre noch Vernunft noch aufrichtigkeit. Es wird mich immer ärgern daß man ihn so ungestraft schreiben, obgleich rasen, läßt. Warum in causa optima nicht jeder von seinen schriften eine eben so positive, so muntere, so beissende, entgegensezen! Aber man leidet auch mit erstaunlichem Kaltsinn, daß die philosophie, die morale, der geschmak verhunzet werden.

Aber ich mag nicht klagen, sie selbst haben in ihren leztern briefen so sehr geklaget, daß mir nichts übrig bleibt, als alle hoffnungen aufzugeben. Der Kopf ist der Nation einmal izt so aufgesezt; Wer soll ihn herunterreissen und ihr einen andern aufsezen!

Die beygelegten brochures sind von Meister und für Hn Müller. Es ist nur zu viel Wiz darinn, ich arbeite mich nicht gern so zu dem verstand hindurch.

Sie machen mich sehr mit mir selbst zufrieden wenn Sie mir jedes jahr einmal sagen, daß sie zuweilen in gedanken bey mir sind. Und ich bin glücklich, wenn auch mein liebster Wegelin an mich denkt. Ich umarme Sie beyde.

Ihr Ergebenster
Bo.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Einschluss und mit gleicher Sendung

»brochures« für Christoph Heinrich Müller (vermutlich [L. Meister], Launen der Muße, 1770).

Eigenhändige Korrekturen

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Stellenkommentar

Weib verlohren
Johannes Sulzers zweite Ehefrau Johanna Helena Goll.
wie L'oiseau sie schreibt
Alexandre Jérôme Loyseau de Mauléon, Défense apologetique du Comte de Portes, 1767.
Hofmeister von Küßnach
Hans Heinrich Hofmeister, von 1763 bis 1769 Amtmann in Küsnacht.
Unser Minister
Johann Heinrich Ott, der von 1780 bis 1795 auch Bürgermeister von Zürich war. Vgl. Bodmers Schrift An Hr. Bürgerm. Ott (ZB, Ms Bodmer 31.7.IV.9).
nach Gatterer
Johann Christoph Gatterer. Allerdings geht aus der Äußerung nicht hervor, auf welches Werk des Göttinger Historikers sich Bodmer bezieht.
apostolische Nordalbingius
Hinter dem Pseudonym Bernhardus Nordalbingius verbarg sich Johann Bernhard Basedow, der das an Lavater gerichtete Altchristliche Schreiben über die Gaben des Geistes, die Glaubensmeister, die Ketzerey und Freyheit an Johannes Turicensis, 1770, verfasst hatte.
querelle d’allemand mit dem Juden
Lavaters auch als »Bekehrungsstreit« bekannte Kontroverse mit Moses Mendelssohn. Lavaters Widmung seiner ersten Bonnet-Übersetzung sorgte in der Berliner Gelehrtenwelt für Entrüstung. Auf Mendelssohns moralisch-seelische Unsterblichkeitslehre und seine Sokrates-Charakterisierung im Phaedon anspielend, versuchte der jüngere Zürcher Theologe Lavater diesen dazu zu bewegen, die Vernünftigkeit der Beweise für das Christentum zuzugeben und somit seinen jüdischen Glauben als unvernünftig zu erklären. Vgl. J. C. Lavater, Philosophische Untersuchung, 1769, Widmung.
Sein neustes Werk Dieu et l’homme
[Voltaire], Dieu et les hommes, 1769. Vgl. darin die Stellen zu Warburton (u. a. S. 33 f.) sowie die Stellen zu Jean de Labadie und Houtteville (S. 88).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann