Brief vom 15. Januar 1766, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 15. Januar 1766

den 15ten Jan. 66.

Mein theuerster Freund.

Ich habe nicht der erste seyn wollen, der Ihnen den angenehmen Wahn benähme, daß alle ihre hiesigen Freunde gesund wären. Der socratische, der Wolfische, der muntre, der ernsthafte, der liebe Künzli ist nicht mehr. Er starb als wir die beste Hoffnung hatten er wäre aus der gefahr. Winterthur hat für mich die Helfte seiner Annehmlichkeit verlohren. Stürbe noch einer in diser stadt so wäre sie für mich eine Wüste. Als wir vorigen sommer einander zum leztenmal umarmeten, wie wenig dachten wir, daß es das leztemal wäre! Mein Trost in dieser trauer ist zum theil, daß ich ihm bald in das enge Haus nachfolgen werde, ein trost, der Euch jüngeren leuten genommen scheint. Noch hat weder unser Schuldheiß noch unser Diacon mir hierüber das geringste Trostwort geschrieben. Ich denke, weil sie selbst mehr nöthig haben.

Waser hat den achten band von Swift unter der Presse, der Schuldheiß muß sich wegen Praktizierbeschuldigungen und öconomischer beschwerden mit einigen seiner miträthe herumschlagen. Doch beyderseits ohne blut und wunden.

Soll ich ihre Trauer um unsern Künzli durch Zeitungen zertheilen und ist es kein Sacrilegium? Unsre Münsterkirche ist gerettet, für die abgebrannte fleche soll eine Kupol von Holz mit Kupfer bedekt kommen. Der Carlsthurm soll dieselbe form haben. Ich sende Ihnen nächstens Breitingers architektischen Aufsaz, der dises Münster gerettet hat, als ihm unsere Grossen schon den sturz geschworen hatten. Auch schik ich zugleich die Schinznacher Verhandlungen von 1765. und anderes.

Izt arbeitet der Chorherr an einer Verwandlung unsrer lateinischen schulen in Moralische. Die Zweyhundert und der oberste schulrath haben die ersten linien des Entwurfes der Veränderung schon gut geheißen. Wißen Sie etwas gutes, welches ihm die Arbeit erleichterte so theilen Sie es mit ihm und mit mir. Seit wenig wochen hatte der Pfarrer Ziegler zu Sant Jacob etliche bogen publiciren wollen betitelt: Wunden- und Blut theologie, in welcher er die ganze heilsordnung zu blut und Gott zum blutgierigen machen wollte, Hr. Antistes wankete, nur Breitinger hintertrieb den druk. D. Pfr. zum Frauenmünster läßt geschriebene blättgen herumfliegen in Wernets catechisme und andern unschuldigen Büchern und Ausdrüken socinianisme zu finden. Und bald finden sie socinianisme in guten werken. Der [→]Sänger Abels zeichnet immer auf Kacheln, oder radiret. Er ist izt unter den CC. Ich sehe ihn da, aber höre ihn nicht. Der Doctor redet mehr als alle CC. und so laut als CC. Er ist doch stumm wenn er reden sollte, und er hat mich schon etliche mal im stich gelaßen. Steinbrüchel schläft bey der Tochter des sel. König Latinus und sein Euripides schläft mit ihm. Wieland ward von der Flamme seiner Contes ergriffen und heurathete eine Augspurgerin, die bey einem Magister proben abgelegt daß sie eine fruchtbare Mutter gäbe.

Wir, Bern und unser grosser bundsgenosse der König, schiken unter den Nahmen Mediatores gesezgeber nach Genf, vermuthlich damit dise souveraine Republik uns einmal diese gutthat mit dem König erwidere. Der petit conseil von da hat die garantie angerufen. Sie schreiben den Representanten Systemen zu, welche ihre Constitution umstoßen; ungehorsam, vorbedachten aufstand, unehrerbiethigkeit, libelle, mißtrauen in die besten regenten; Rousseau habe sie von Gott und der Obrigkeit abtrünnig gemacht. Wir glauben das alles und noch mehr, und machen uns ein gewißen die Deductionen, Reponses, lettres der Citoyens zu lesen. Sie wissen, daß der petit conseil alle Representationen verwirft weil die Mediation von 1738 sagt, daß nichts vor den Conseil General gebracht werden müsse, was der petit conseil nicht nöthig gefunden hat. Und izt findet er nicht nöthig die offenbarsten Infractionen der Edicte vor den Conseil General zu bringen. Er heißt dieses sein erobertes Droit negatif. Die Absurdité davon vor Augen zu legen bedienen sich die Citoiens eines Artikels der Mediation, der ihnen giebt daß sie den Vorschlag zu Lieutenants und sindics en partie où en tout verwerfen und einen andern Vorschlag fodern dürfen. Sie haben also alle Vorschläge mit großer majorité verworfen, und izt sind keine kleinen Rathsglieder mehr, die disen charges, so von dem Conseil general zu erwählen sind, fähig wären. Daher entsteht eine Art Anarchie, doch nicht völlig, weil der Conseil allemal da ist und ad Interim für die Regierung Vorsehung thun könnte. Allein man macht ihm diese gewalt streitig, weil die Mediation von 1738. divers ordres gesezet hat, welche die souveraineté wo nicht zertheilen doch mittheilen.

Man sollte meinen, wenn in Genf eine Anarchie ist so wäre unser bund mit ihnen aufgelöset, denn wir haben uns nicht mit Anarchen verbunden. Aber wir schiken unsere bevollmächtigten nach disem stand, die Anarchie aufzuheben mit Vorstellungen oder mit gewalt. Man sagt Bern habe schon Regimente aufgeboten. Bey uns sind von 200. kaum 6. Personen, die den statum quæstionis verstehen, man hat uns bewiesen, daß wir ihn nicht nöthig haben zu verstehen, und daß wir acht Tage lernen müßten, wenn wir ihn lernen wollten. Er könnte nur in Genf gelernt werden. Das Wunder ist daß wir 1738. die Mediation gemacht, und vermuthlich gewußt was wir gemacht haben. Indessen beziehen sich beyde theile, der souveraine Conseil General, und die Regierung auf die Mediation von 1738, und findet jede partey darinnen seine Meinung. Man kann nicht die wenigste gewaltthätigkeit oder Excess auf die Citoyens bringen, als daß sie dem Rath despotische Absichten nach plan und Entwurf zulegen, und ihre Foderungen mit schriften erhärten. Das ist aber eine Verunehrung, und Beschimpfung des Magistrates, welche wir als getreue Bunds und Religionsgenossen ihnen helfen müssen abwischen. Der unterschied zwischen 1738. und 1766 ist, daß damals kein Genfer schreiben konnte, oder nicht dorfte, izt sind nicht wenige die so gut denken und schreiben als einer der fünfundzwanzig. Man sagt, sie haben ich weis nicht durch was für Hausmittel Voltairen auf ihre seite gewonnen. Ich kann es doch nicht glauben und aus Ursachen. In unserm grossen Rath haben sie keinen Freund der für sie noch ein gutes Wort geredet hätte, als den Beweiner unsers Künzlis. Der Doctor der sonst immer den mund offen hat, und ihn für die gute sache offen hat, schwieg izt schon zweymal wie die stille nacht. Ausgenommen als ich nur anregung that, daß Ao. 1707. und 1736–7–8 Unruhen und Complote und tamponemens in Genf gewesen als kein Rousseau war, entstand bey der blossen Erwähnung des Nahmens Rousseau eine Huée von Banke zu Banke, und der Doctor und Geßner lacheten mit vollem Munde. Ich weis nicht, ob es siflement oder nur lustigkeit gewesen. Der Doctor sagt, er selbst habe mit Geßner über das Kindergelächter so herzlich gelachet. Er lachete und schwieg, und doch hatte ich meine gnädigen Lacher ausdrüklich aufgefodert, daß sie sich das precis historique des divisions de Geneve, das gedrukt ist, und das ich in der Tasche hatte, vorlesen lassen und sich daraus lumieres geben und nehmen sollten. Aber sie sagten daß sie keine lumieres haben wollten. Die Mediatores würden schon für sie wissen. Die Foderungen der Citoiens sind durch zwanzig publicirte Schrifften in ein solches Licht gesezet, daß die Hohe Mediation auf die probe gesezt ist den Iztlebenden und der Nachwelt ein Merkmal zu geben, wie viel macht in unsern Tagen der Wahrheit und der guten Sache über Interesse, Herrschaft und falsche Politik übrig geblieben ist.

Wissen sie auch daß unser Engelländischer Füssli würklich mit dem Sohn des Lord Walgrave in Lyon ist, und ein jahr da bleiben soll? Er hat mir vor wenig Tagen etliche Zeilen geschrieben. Er klagt, daß ich nur über ihn geseufzet und ihm nicht geschrieben hätte, da er doch eine Ode an mich geschikt hätte; und daß Sulzer ihm nicht schreibe, und ihm keine Noachide geschikt hätte. Er schrieb schon aus London Dällikern, daß er bey dem Lord Walgrav lebete, und mit seinem Sohn nach Paris und Lyon gehen würde, und kaum wußten wir dises als er schon aus Lyon schrieb. Er ist voll Zufriedenheit, in glücklichen Umständen, er hat und gewinnt viel Geld. Ich zweifle nicht, sie, mein Freund, seyn von ihm befriediget.

Ich hoffe die Jgfr. Meisterin habe sich gebessert, oder wenigstens sie würde sich gerne bessern, wenn sie könnte. Sie preiset ihre Gütigkeit gegen sie. Der junge Meister von Küßnacht hat ihr starke Wahrheiten geschrieben. Ich sah ihn recht böse auf sie; So fern ists, daß er sie in ihrem göttlichen Mädchentraum unterhalte. Dieser philosophische Jüngling, ein gutes Genie, geht izt nach Paris, Informator eines Knaben in einem vornehmen reformirten Hause zu werden. Der Vater des Kindes lebt nicht mehr aber die Mutter ist eine vortreffliche Matrone. Moultou von Genf hat diese sache negotiert.

Unser Hr. Statth. Escher und Hr. Sekelm. Heidegger sollen nach Genf gehen. Man hält den ersten für einen Gönner der alten Constitution in Genf; der andere hält alle lands- u. stadtgemeinden für unruhig und dem Gehorsam gegen die Regierung abbrüchig. Hr. statthalter Hirzel denket wie Heidegger; und ist überhaupt in allem, auch wichtigsten Geschäften so kaltsinnig und stumm, als wenn ihm denken und reden Mühe machete. Ihre Gnaden Löwe sind abgenuzt, und ihro Gnaden Landolt haben uns den Frisius zurük gebracht.

Dälliker ist der junge Minister der den Junker Obmann Schwarzebach ausgestellt hat; eben der welcher den Demetrius in deutsch übersezen wollen.

Meise im Winkel hat den Rathshr. Orell (nicht den sekelmeister) ausgestellt. Ihm hat mans verziehen, aber Dällikern nicht.

Ich hoffe daß ich Ihnen gegen Ostern etwas schiken könne, welches ihnen beweisen soll, daß ich gearbeitet habe, wie wol das solve senescentem mir stark in dem Kopf sauset. Wie gewiß wird diser Brief dem ihren auf dem Wege begegnen? Ich umarme Sie, Wegelin, Spalding, Lambert etc.

Bo.

Bern hat zu gesetzgebern der Republik Genf ernannt den sekelmeister Ougspurger und den Rathsherrn Sinner. Diser ist der landvogt Sinner, bey welchem Wieland Informator gewesen. Er soll ein popularer mann seyn. Ougspurger ist wie Heidegger.

Der leztere Brief den ich von Ihnen habe, ist vom 1. October und enthält die schlimmen Geschichten der Jfr. Meist. Die ersten bewegungen, in die er mich sezte, waren sehr ungnädig und noch mehr verdrüßlich. Seit acht Tagen hatten wir die Kälte von 1740.

Füßli hat Klopstoken 2. Zeichnungen zu seinem Messias geschikt, und dabey nicht ein Mot de lettres. Er ist mit seiner poesie immer wol zufrieden, aber er tadelt die Vorstellung des Religiosen in seinem Gedicht sehr, nicht in Absicht auf die Materie insgemein sondern in der Ausbildung, die so Wundentheologiemässig ist.

Der Quartierhauptmann Zellweger thut starke Tritte in die Fußstapfen seines Oncle. Sagen sie dises unserm Wegeli.

Da ich den Brief dem Boten geben wollte, empfang ich die erwünschte Nachricht, Hr. Escher habe geschrieben, daß das Fieber Sie gänzlich verlaßen habe; ohne Zweifel bestätigen sie diese gute Zeitung mit ihrer Handschrift, welche ich leicht noch erhalten kann eh dieses aus der Schweiz nach Schwabenland kömmt, wiewol Hr. Graf izt gesonnen ist künftigen montag zu verreisen.

Noch soll ich Ihnen sagen, daß wir für unsere realschule eine sammlung von geschikt erzählten kleinen moralischen Handlungen, in deutscher Sprache haben sollten. Die besten wären, die aus dem niedern Leben genommen wären, und starke Beyspiele von natürlichen, weiblichen, ehrlichen, kindlichen, patriotischen Tugenden enthielten. Nichts, was societätische sachen enthielte, von welchen ein Kind von 8.--10. jahren keine Begriffe haben kann, oder nicht haben sollte. Wenn sie sonst irgend einen guten Rath geben könnten, wie man eine publike Information zum besten der sitten und der denkungsart für kinder der plebejer einrichten könnte, würden sie uns sich von neuem verbinden.

Sie müssen mich nicht verstehen, als ob wir in der neuen schule plebejer und patricier unterscheiden wollten, wie man in Bern thut. Ich begreife unter den plebejern auch die patricier, welche in Informationssachen nicht bessere begriffe haben, als jene.

Sie haben mir bey Zeiten die eilf ersten bogen von der Noachide geschikt, der lezte war L. Könnte ich nicht die übrigen samt Titel dazu haben? Es ist schade wenn dise Eilf incomplet zu maclatur werden sollen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b. – E: Zehnder-Stadlin 1875, 422–426.

Eigenhändige Korrekturen

Religionsgenossen
Religions⌈genossen
hatte, vorlesen lassen
hatte, sollte vorlesen ⌈lassen
Sohn des Lord Walgrave
Sohn des ⌈Lord⌉ Walgrave

Stellenkommentar

Breitingers architektischen Aufsaz
Siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1765-09-04.html.
Pfarrer Ziegler zu Sant Jacob
Johann Jakob Ziegler.
Pfr. zum Frauenmünster
Johann Caspar Ulrich.
Wernets catechisme
J. Vernet, Instruction chrétienne, 1756.
Der Sänger Abels zeichnet [...] radiret
Salomon Geßner ließ 1764 eine Folge von zehn radierten Landschaften unter dem Titel X paysages dédiés à Mr. Watelet erscheinen. Siehe auch Brief letter-bs-1763-12-15.html. 1765 wurde er Mitglied des Großen Rats von Zürich.
Steinbrüchel schläft bey der Tochter des sel. König Latinus
Anspielung darauf, dass Johann Jacob Steinbrüchel seit 1764 mit Susanna Hagenbuch verheiratet war. Sie war die Tochter des 1763 verstorbenen Theologen und Antiquarius Johann Caspar Hagenbuch, der hier wohl in Anspielung auf den mythischen König in Vergils Aeneis als »Latinus« bezeichnet wird. Auch Martin Künzli wurde von Bodmer und seinem Umfeld »Rex Latinus« genannt. Siehe dazu Kommentar zu Brief letter-bs-1761-12-08.html.
eine Augspurgerin
Wieland hatte im Oktober 1765 Anna Dorothea von Hillenbrand geheiratet.
Beweiner unsers Künzlis
Bodmer selbst.
precis historique des divisions de Geneve
Voltaire, Propositions à Examiner pour apaiser les divisions de Geneve, 1765.
Sohn des Lord Walgrave
1766 begleitete Johann Heinrich Füssli George Waldegrave, den älteren Sohn des englischen Höflings und Offiziers John Waldegrave, der seit dem Tod seines Bruders 1763 den Familientitel »Earl Waldegrave, Viscount Chewton« führte, auf dessen Reise durch Frankreich, kehrte jedoch am Ende desselben Jahres wieder nach London zurück.
etliche Zeilen geschrieben
Nicht ermittelt.
aus London Dällikern
J. H. Füssli an Salomon Dälliker, London, 12.--15. November 1765 (Füssli Briefe 1942, S. 101 f.).
junge Meister von Küßnacht
Jacques-Henri Meister.
Ihre Gnaden Löwe
Hans Jacob Leu, der seit 1759 Bürgermeister von Zürich war, starb 1768.
Frisius zurük
Anspielung auf den 1759 verstorbenen Bürgermeister Johannes Fries. Hans Kaspar Landolt war seit 1762 Bürgermeister.
solve senescentem
Hor. epist. I, 1, 8.
Kälte von 1740
Zum Winter von 1740 und anderen extremen Kälteperioden des 18. Jahrhunderts vgl. Pfaff Ueber die strengen Winter 1809, S. 114 f.
Quartierhauptmann Zellweger thut starke Tritte
Johannes Zellweger, Neffe Laurenz Zellwegers, beteiligte sich aktiv an der politischen Entwicklung in Appenzell Ausserrhoden und wurde 1766 Landesfähndrich.
Hr. Escher habe geschrieben
Salomon Escher an Bodmer, Berlin, 8. Januar 1766: »Hr. Sulzer ist noch allezeit mit seinem Fieber geplaget, u. man hat keine Hofnung, daß Ihn selbiges vor könftigem Frühling verlaßen werde: indeßen nimmt doch die Heftigkeit deßelben nach u. nach ab. Allein da Er in seinen Geschäfften, welche nicht in geringer Anzahl sind, verhindert wird, so kan man sich leicht vorstellen, daß Ihm selbiges sehr zu Last fallt, um so mehr da es nun schon so lang gedauert hat: ich habe zwahr das Vergnügen Ihn offt zu sehen, u. mich mit Ihm über verschiedene Materien zu unterreden: indeßen bedaure ich Ihn, daß er so lang geplagt wird, u. ich wünsche von Herzen, daß Er bald wieder hergestellt werde.« (ZB, Ms Bodmer 21.1a).
maclatur
Makulatur.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann