Brief vom 14. April 1764, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 14. April 1764

Mein theuerster.

Ich weiß es daß sie der freundschaftlichste Mensch sind, und nichts weniger nöthig ist als daß ich Ihnen den Hrn. Hugo, den neuen franz. Prediger von Frankfurt, in ihre Clientel empfehle. Aber Hr. Hauptmann Corrodi hat geglaubt, daß Ihm ein paar Zeilen von mir wolthun mögen, und mich so sehr darum gebeten daß ich sie ihm nicht abgeschlagen habe.

[→]Hätte ich mehr Zeit gehabt, so wäre in das päkgen noch Ihr portrait von dem grossen Künstler zu Rikenbach und ein original von Callot, der übergang durch das rothe Meer, gekommen, welche Hr. Kammerer Wirz Ihnen bestimmt hat.

Mich verlanget so sehr nach ihren Anstalten wegen des Noah oder der Noachide, des Todes der Ersten Erschaffenen, und des Marcus Brutus, daß ich Ihnen bald das unrecht thäte zu fürchten, es möchte sie beleidiget haben, daß ich so viel mißtrauen in Ihre Hexameter gesezet habe. Doch ich habe desto mehr glauben in ihre Erinnerungen über die Mängel in dem plan und der ausbildung. Ich hoffe sie verlassen obige werke, alle dergl. Mängel betreffend, noch nicht.

Hr. Reich hat unsern buchhändlern geschrieben, daß der Julius Cäsar vergriffen sey; und der Marcus Brutus ist mit Absicht auf die poesie wie auf die person ein grösserer Mann als Cäsar.

Befreyen sie mich so oft es möglich ist aus der unruhe, die ihr stillschweigen mir verursacht.

Unsere Gemüthsfassungen, in welche Ihre Entschliessung des Königs zu seyn, uns gesezet habe, wissen sie aus briefen, die ich Wyssen und Rahnen an Sie gegeben habe. Hr. schuldheiß ist der betrübteste. Hr. Rektor der philosophiste, Hr. Waser Hr. Breitinger die geduldigsten. Es hat Hn Rector schier verdrossen, daß sie ihm zuvor von ihrem Entschluß ins Vaterland zu kommen, ein geheimniß gemachet.

Ich bin vollkommen der meinung daß die Jgfr. Meisterinn die rechte person für ihre liebsten Töchter sey. Sie ist sehr gutmüthig, sehr verständig, geistreich, polit. Man sieht ihr nichts schlechtes, nichts bürgerliches an; sie liest jedes französische Buch, ohne daß sie sich für ein bel Esprit halte. Sie hat die weiblichen Arbeiten, der lectur nicht aufopfern können, wie die Bondeli, und die Cruchot gethan haben. Ich habe mit ihr persönlich über dise sache gesprochen, wir möchten aber doch gern wissen, zu was für absonderlichen geschäften sie gebraucht werden solle. Sie glauben gern, daß ihr die Hofetiquette bey vornehmem Besuch und Aufwart nicht kann angewöhnt seyn, ich bin doch versichert, daß ihr auch dieses bald geläuftig seyn würde. Es kostet sie Mühe sich von ihrer alten Mutter, wie wol sie nur stiefmutter ist, looszureissen – aber Sulzer muß sich auch von seinen Freunden loosreissen. Sie würde sich Ihnen widmen.

Der Canton Schwyz fasset auf seinen Landsgemeinden seltsame Entschliessungen gegen den marechal Reding und andere landsleute die in französischen Diensten stehen. Die geschichte davon hat für Höfe viel burlesques; dise leute sind in der that auch sehr alarmirt. Man hat sie glauben gemacht, die neue capitulation vermöge sie müssen eine miliz für Frankreich aufrichten, von welcher jedesmal, wenn der König es will, der sechste mann in seine Dienste ausgezogen werden müsse. Uri ist ein wenig geschlachter.

Wir sind mit der Formation beynahe zu Ende, Bern hat uns noch immer aufgehalten.

Man hat in Bern acht oder mehr alte Herren durch grosse summen vermocht, daß sie resignirten, damit die Anzahl des großen Rathes so tief herabkomme, daß man eine Regimentsbesazung vornehmen muß.

Vergessen sie nicht unsern Hn sekelmeister Orell das [→]Geschenk von dem Prinzen von Würteberg zu notificiren, und legen in seinen Brief auch einige Zeilen für

ihren Ergebensten Diener
Bo.

den 14 April 1764.

raptim.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen Rand der ersten Seite: »14 Apr. 64.«

Stellenkommentar

den Hrn. Hugo, den neuen franz. Prediger von Frankfurt
Christoph Hugo kam »im Jahre 1764 aus der Schweitz berufen« an die Stelle des ersten Predigers der französischen Kolonie in Frankfurt an der Oder (Hausen Geschichte der Universität und Stadt Frankfurt 1800, S. 169). Näheres nicht ermittelt.
Hauptmann Corrodi
Caspar Corrodi (geb. 1725), seit 1752 Leutnant im Regiment Lochmann in französischen Diensten und 1764 zum Hauptmann ernannt (H. J. Leu, Lexicon, 1788, Suppl.-Bd. 3, S. 395).
Hätte ich mehr Zeit
Vgl. dazu ausführlich Künzlis Brief an Bodmer, Winterthur, 12. April 1764: »Es sind mir zwo Gelegenheiten entgangen, da ich dero Päkgen an Herrn P. Sulzer häte versenden können: Jezeler verreisete und der H. Dr Hegner, hate es vergeßen, mir davon, unsrer Abrede gemäß, Nachricht zugeben. H. Rahn war eine Stunde zuvor abgefahren, da ich ihm, ihr und H. Camerers von Rikenbach Päkgens, durch meinen Neveu, übergeben wollte, ich werde allso genöthiget, Ihnen das ihre wieder zurükke zuschikken.« (ZB, Ms Bodmer 3a.2, Nr. 125).
Ihr portrait von dem grossen Künstler zu Rikenbach
Porträt Sulzers von seinem Schwager, dem Pfarrer und Maler Johann Jakob Wirz. Wirz war 1715 ordiniert worden und hatte seit 1738 die Pfarrstelle in Rickenbach im Kanton Zürich inne. Anfang 1762 heiratete er Sulzers Schwester Küngolt, die seit 1757 verwitwet war (Denzler Die Sulzer von Winterthur 1933, Taf. 8, Nr. 580). Das Porträt konnte nicht ermittelt werden. Im oben zitierten Brief Künzlis heißt es weiter: »Die Päkgen von seinem H. Schwager wären dem Herrn Professor ganz gewiß sehr angenehm gewesen, denn in dem einen war das Portrait unsers H. Sulzers, von dem großen Künstler zu Rikenbach kenntlich und vortreflich mit größtem Fleiß gezeichnet« (ZB, Ms Bodmer 3a.2, Nr. 125).
der übergang durch das rothe Meer
Kupferstich nach Jacques Callot, Le Passage de la mer rouge, Radierung, 12,5 × 23,3 cm, Paris 1629. Zu Sulzers Beschäftigung mit Callot vgl. auch Brief letter-sb-1758-09-26.html.
der Julius Cäsar
J. J. Bodmer, Julius Cäsar, 1763.
Es hat Hn Rector schier verdrossen
Vgl. Künzli an Bodmer, Winterthur, 12. April 1764: »Ich kann die Ursache nicht wohl errathen, warum man mir von seinem fest gefaßten Entschluß, zu uns zu kommen, ein Geheimniß gemacht.« (ZB, Ms Bodmer 3a.2, Nr. 125).
die Jgfr. Meisterinn
Julie Auguste Meister, Tochter von Johann Meister in Neftenbach (1698–1746) und Schwester von Leonhard Meister. Der Vorschlag, sie als Hofmeisterin für Sulzers Töchter anzustellen, ging auf Lavater zurück. Sulzer schrieb an ihn am 10. April 1764: »Von der M. Cruchot weiß ich gar nichts. Die J. Meisterin habe ich 1740 als ein Kind von 8 oder 9 Jahren gekannt denn ihr Vater hatte kurz vorher eine von meinen Anverwandten geheyrathet. Das was Sie mir von ihr schreiben ist allerdings die Hauptsache worauf ich zu sehen habe. Außer dem gehörigen Verstand und Geschiklichkeit zu einem solchen beruff wünschte ich vornehmlich an einer solchen Person Sanftmuth und Gefälligkeit aber ohne Schwachheit, weil durch diese bey Kindern das Meiste verdorben wird. [...] Haben Sie die Freündschaft sich mit unserm lieben Bodmer sich deshalb zu berathen. Was sie dieser Sache halber beschließen werden, wird ohne Zweifel das beste seyn.« (ZB, FA Lav Ms 258).
polit
Übers.: »höflich, wohlerzogen«.
bel Esprit
Übers.: »Schöngeist«.
die Bondeli
Julie Bondeli, Berner Salonnière. Ihr geistreicher Umgang machte sie zu einer zentralen Figur des intellektuellen Lebens in Bern. Durch ihre Korrespondenzen u. a. mit Rousseau, Wieland, J. G. Zimmermann und L. Usteri erlangte sie über ihre Heimatstadt hinaus Bekanntheit.
die Cruchot
Eigentlich Suzanne Curchod, damals Gouvernante in Genf bei Anne-Germaine Girardot de Vermenoux. Sie begleitete diese 1764 nach Paris, wo sie Jacques Necker heiratete und eine berühmte Salonnière in den Pariser intellektuellen Kreisen wurde. Der Vorschlag, sie als Gouvernante einzustellen, ging auf Hans Martin Usteri zurück, wie ein Schreiben Bodmers an Lavater vom 4. April 1764 zeigt (ZB, FA Lav Ms 502.269).
geschlachter
»gut geartet, angemessen« (DWB, Bd. 5, Sp. 3896 f. – SI, Bd. 9, Sp. 32).
Geschenk von dem Prinzen
Vgl. Brief letter-sb-1764-02-22.html.
raptim.
Übers.: »in Eile«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann