Brief vom 26. September 1758, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 26. September 1758

Berl. den 26 Sept. 58.

Mein theürester Freünd.

Ich habe ihre Beyde Briefe vom 2 und 13 Sept. richtig erhalten. Von meinen Briefen muß einer, der meistens von dem Tode des Prinzen handelt, mit welchem meine beste Hoffnungen zugleich begraben worden, verunglükt worden seyn. Der leztere ihrer Briefe war auf so feines Papier und mit so durchschlagender Dinte geschrieben, daß ich wenig davon habe lesen können, am allerwenigsten die Verse, welche ich doch nicht gerne mißen möchte.

Es ist unerhört mit welcher barbarischen Unverschämtheit die Rußen ihre bey Zorndorff erlittene Niederlage nicht blos leügnen, sondern sich einen vollkomenen Sieg zuschreiben. Es ist nichts gewißer, als daß sie an Todten und verwundeten ohne die Gefangenen über 30 Tausend Man verlohren haben, da unser ganze Verlust wenig über 2000 Man ist. Indeßen ist der Sieg freylich nicht weit verfolget worden, weil der König mit einem beträchtlichen Theil des Siegenden Heeres nach der Schlacht wieder nach Sachsen zurük gegangen und nur eine kleine Macht unter dem General Dohna die Rußen zu beobachten zurüke gelaßen hat. Aus dieser Ursache ist auch der geschlagenen Armee möglich gewesen sich wieder bey Landsberg fünf Meilen von Cüstrin zu sezen.

Gestern hatten wir hier das Vergnügen 1200 Rußische gefangene hier durchführen zu sehen. Es ist mir nicht möglich Ihnen einen hinlänglichen Begriff von dem Barbarischen Wesen zu geben, welches man in so vielerley häßlichen Gestallten auf den Gesichtern und in dem Betragen dieser Leüte gesehen. Ein Callot hätte seine Halbe LebensZeit zubringen können diese seltsamesten Figuren zu zeichnen, und ich hätte einen Finger von der Hand drum gegeben, daß sie diesen Auftritt gesehen hätten. Überhaupt fallen jezo hier Scenen vor, die einem Dichter hundert neüe und sehr nachdrükliche Bilder geben können.

Die Eindrüke dieser Scenen aber bemächtigen sich dergestallt meiner Seele, daß kein andrer Gedanke davor aufkommen kann. Es ist an keine ordentliche Arbeit, an kein zusamenhangendes Denken, an keine Unternehmung zu denken. Ich weis so wenig was seit einem Jahr außer dem Krieg vorgegangen ist, als wenn ich in Indien wäre.

Bald hat man Sorge vor einem anrükenden Feinde, bald Freüde über seine Niederlage; denn ist man in ungewißen Erwartungen künftiger naher Scenen, denn wird man von vielen durcheinander lauffenden Gerüchten betäubet. Kurz man lebt in einem beständigen Taumel den das Geräusche der Waffen verursachet.

Noch ganz kürzlich haben sich die Schweden bis auf vier Meilen vor Berlin gewaget. Vor einigen Tagen ist ein Corps unsrer Trupen, welche der König aus Sachsen geschikt hat, hierdurch auf sie an marschirt und nun bringt man uns Täglich gefangene Schweden hier ein. Unsre Straßen und Spaziergänge wimmeln von wandelnden Trofeen. Bald haben wir von allen Nationen gefangene hier. Wie ofte denke ich in diesem Tumult an ihre stille Wohnung! Wie ofte wünsche ich bey Ihnen zu seyn, und dem Krieg einmal ganz von weitem zuzusehen, oder ihn auf einige Zeit gar zu vergeßen!

Ihr Päken ist nach der Ostermeße mir zugekommen. Der Abel hat mir einige entzükende Stunden gemacht. Alles ist neü, rührend, fürtrefflich. Aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich nicht mehr auf die Hexameter besinne, welche mit in dem Päkgen sollen gewesen seyn. Schreiben sie dieses meinen gar zu starken Zerstreüungen zu, welche auch diese Würkung hat, die mir sehr empfindlich wird, daß ich das Gedächtnis dabey verliehre. Ich erinnere mich des wenigen, was dieses Jahr außer den Kriegsangelegenheiten zu meiner Kenntnis gekommen, wie solcher Dinge, die vor 20 Jahren begegnet sind.

Ihre Johanna Gray, oder eine Abschrifft des Noah könnten vielleicht meine zerstreüeten Geister wieder etwas sammeln. Denn ich sage es Ihnen mit der größten Aufrichtigkeit. Nichts heftet meine Aufmerksamkeit so sehr, als was aus ihrer Feder kömmt.

Die Auszüge aus des rechtschaffenen Philokles Briefen machen mir und ein paar meiner Vertrautesten Freünden großes Vergnügen. Schiken Sie mir doch einmal einen historisch ausgeführten Charakter dieses Verehrungswürdigen Mannes, daß er auch meinen Freünden beßer bekannt werde und versichern Sie ihn meiner vollkommensten Hochachtung.

Dem Hrn. Künzli sagen Sie, daß der Gonzenbach, der in unsern Diensten ist noch lebet und nun nicht mehr unter den Pionniers, sondern unter dem Ingenieur corps steht. Von dem oesterreichischen habe ich nichts erfahren können.

Dem Hrn. Gerichtsschr. Orell sagen Sie, daß ich ihm gerne dienen werde. Aber nach den hiesigen Gesezen därff ich mich nicht einmal melden, um das Testament der Verstorbenen oder das Inventarium ihrer Verlaßenschaft zu sehen, wenn ich nicht eine gerichtliche Vollmacht hierüber von sämtlichen Erben habe. Die verstorbenen Pfrn. Orellen sind hier fast gar nicht bekannt, und ich habe erst heüte einen Prediger ausgefraget der sie sehr genau soll gekannt haben und von welchem ich vermuthlich alles erfahren werde, was ihre Umstände betrifft. Ich habe ihn aber noch nicht sprechen können. In meinem nächsten Schreiben werde ich Ihnen hievon das nähere berichten.

Ihrem Hrn. Schwager bitte zu sagen, daß ich mit der heütigen Post an Hrn. Heinrich Herzog in Frankf. einen Wechsel von 704 Rthlr.. schike, welcher ihm dort baar in Frankfurter Current wird bezalt werden. Das hiesige Current möchte gegen Frank. etwas beßer seyn, allein dieses kann ich jezo noch nicht berechnen. An eine nähere Befriedigung von Schwarzen ist nicht zu denken. Denn ich habe mit ihm für die ganze Summe accordirt und noch mehr bekommen, als zu vermuthen gewesen, in dem des Menschen seine Umstände so schlecht sind, als möglich.

Von neüern Krieges Geschichten kann ich nichts berichten. Der König steht in Sachsen gegen Daun und sucht ihn zum Treffen zu nöthigen. Aber dieser steht vortheilhaft und wird nichts wagen wollen. Die Rußen machen verschiedene Bewegungen gegen Pommern. Man glaubt, daß es einen Rükmarsch nach Preüßen anzeige.

Leben Sie wol mein theürester Freünd. Ich bin auf immer der Ihrige

S.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Anschrift

à Monsieur Bodmer Membre du Grand-Conseil & Professeur très celebre à Zurich frco. Nrnberg.

Vermerke und Zusätze

Auf der letzten Seite »Schwager« und »Schwarzen« von Bodmer geschwärzt. – Siegel.

Eigenhändige Korrekturen

ich doch nicht gerne
ich doch ⌈nicht⌉ gerne
ist mir nicht möglich
ist ⌈mir⌉ nicht möglich
und dem Krieg einmal
und bey dem Krieg einmal

Stellenkommentar

Ein Callot hätte
Der französische Zeichner, Kupferstecher und Radierer Jacques Callot war u. a. mit den Serien Les petites misères de la guerre und Les grandes misères de la guerre bekannt geworden. Sulzer geht auch in der AT mehrfach auf Callot ein (z. B. Bd. 1, 1771, S. 144 u. S. 459).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann