Brief vom 8. Juli 1776, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Wülflingen
Datum: 8. Juli 1776

Ich sage mir seit 8 Tagen jeden Morgen, daß ich Ihnen schreiben sollte, und doch habe ich die Krafft nicht den Willen würksam zumachen. Die Zerstreüung darin ich lebe, macht mich völlig untüchtig zu dieser Arbeit. Denn so bald ich die Feder in die Hand nehme, weiß ich nicht mehr, was ich schreiben soll. In der That ist der Kopf nie leerer, als wann das Herz recht voll ist. Wenn es wahr ist, was Quintilian sagt: pectus est quod disertum facit; so muß es doch nur denn wahr seyn, wenn das Herz nur mäßig voll ist. Mit einmal ist alles Schreiben an Sie, so lange mir ihr Bild noch so frisch mit allen Farben vorschwebt, daß ich Sie zu sehen und zu hören glaube, so abgeschmakt, daß ich ohne großen Zwang damit nicht anhalten kann: es ist mir gerade, als ob ich laues Waßer trinken sollte. Und doch muß ich izt Ihnen sagen, daß ich auf dem Punkt stehe dieses Land zu verlaßen; es in zwey Tagen auf immer zu verlaßen. Zum Glük hält die Begierde meine eigene Hütte wieder zu bewohnen, auf meinem eigenen Grund und Boden wieder zuwandeln, meine Familie wieder zusehen; meiner Bäume zuwarten und meine Hühner zu füttern, dem Unmuth meine ältesten Freünde und den Boden, auf dem ich als ein Kind herumgewandelt bin, zu verlaßen, so sehr die Waage, daß ich wie gleichgültig bin, ob ich bleiben, oder reisen soll. Ich werde aber in der That auf der Reise dadurch erquikt werden, daß ihr ἐίδωλον neben mir sizen und so gar mit mir plaudern wird. Dieses wird mir den Weg verkürzen und die Munterkeit, die ich an ihrem Bilde sehen werde, wird auch mich ermuntern.

Ich wollte freylich nicht dafür stehen, daß Sie nicht in schweere Verurtheilung fallen werden, wann Klopstok erfährt, daß Sie die Kühnheit gehabt, ein Werk wieder zu bearbeiten, das er der Welt von der Höhe seines Thrones schon geschenkt hat. Ihr Unglük dabey ist, daß Sie alsdenn auch nicht einmal von mir ein Wort des Trostes vernehmen werden: ich werde Ihnen die Demüthigung gönnen, aber aus ganz andern Gründen; denn mir scheinet das Werk nicht Tanti, daß es einer neüen Bearbeitung werth wäre. Je länger ich in der würklichen Welt lebe, je unschmakhafter wird mir die, die ihr Daseyn Kl. Phantasie zu danken hat. Ich lebe noch lieber mit würklichen Menschen mit allen ihren Fehlern, als mit den phantastischen Wesen, die Kl. Adams Familie nennt. Diese Leüte sind mir zu innbrünstig.

Lavater hat dem Graffen Colonna etwas sehr alltägliches gesagt. Denn jeder Tropf schafft sich selbst Gözen vor denen er die Knie beüget.

Waser hat mich besucht, und wir haben uns beyde unsrer Gegenwart nebeneinander gefreüt. Er ist mehr Körper, mehr Trägheit, als er sonst war; aber mitten aus dem trägen Fett heraus habe ich doch Wasers Geist durchscheinen gesehen. Er ist im Grund noch der Alte; nur daß der etwas träge Geist mehr Mühe hat aus der vermehrten Materie sich herauszuarbeiten.

Meine Gesundheit scheinet doch sich unvermerkt wieder etwas zu stärken und ich hoffe noch gute Würkung von der Reise, wenn nur die Umstände dazu so seyn werden, wie ich sie wünsche.

Ich bringe mit meinem freündschafftlichen Wirth alle Morgen mit Plaudern und Spazieren zu, und Nachmittag geben wir dann Audienz und halten Cour, wobey wir uns eben so wenig Zwang anthun, als die großen Herren, wenn ihnen der Hof gemacht wird; denn wir sehen uns als die an, wonach die andern sich richten müßen. Kleine Histörchen von Schildtbürgerischer StaatsVerwaltung Hoher und niedriger Orte, dienen uns fast täglich zur Belustigung; und wenn uns etwas recht artiges vorkommt, so ruffen wir Sie immer, als zu einem Fest herbey und laßen auch Sie ihre Anmerkungen über die Sachen machen. Bisweilen weken wir unsern verstorbenen Freünd Künzli auch wieder auf um einen lustigen Einfall mehr zubekommen. So fliegen die Tage vor uns vorüber und es wird immer früher Abend, als wirs wünschten.

Bey meinem Unvermögen in gegenwärtigen Umständen eine Correspondenz zu führen wünschte ich, daß Sie, doch mit ihrer besten Gelegenheit meinen dortigen Freünden, Breitinger, Hirzel, Schultheß mündlich sagten, was ich Ihnen schreiben würde, wenn ich schreiben könnte. Sie wißen wol, was ich jedem schreiben würde.

Ich hoffe, daß Sie späthestens in 4 Wochen einen Brief aus dem Moabiter Land von mir bekommen sollen. Izt umarme ich Sie in diesem Lande zum lezten male und sage Ihnen nicht Fahre wol, sondern Bleibe wol inzwischen ich wol fahren möge. Der Biderman Schulth. sagt mir viel Freündschaftliches, das ich Ihnen in seinem Namen wieder sagen soll: aber Sie wißen es schon, und ist also die bloße Erinnerung deßelben hinlänglich.

Adieu.

JGSulzer

Wülfflingen den 8 Julij 1776.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Körte 1804, S. 440–444.

Anschrift

Herrn Profeßor Bodmer in Zürich

Vermerke und Zusätze

Siegelreste.

Stellenkommentar

pectus est quod disertum facit
Quint. inst. X, 7, 15 »Pectus est, quod disertos facit et vis mentis.« Übers.: »denn das Gefühl und unsere Denkkraft machen uns zu Rednern«. (Quintilian, Lehrbuch der Redekunst, 2012, S. 123).
Tanti
Übers.: »so«.
mit meinem freündschafftlichen Wirth
Sulzer war bei Johannes Sulzer zu Gast, in dessen Besitz sich das Schloss Wülflingen seit 1767 befand.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann