Brief vom 6. Juli 1776, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 6. Juli 1776

den 6ten. Jul. 1776.

Der Abschied von Ihnen, m. liebster, sezete mich auf das trokene: ich rafte alle meine männlichkeit zusammen; so voller sich kreuzenden gedanken daß keiner den andern aufkommen ließ, stieg ich den Zürcherberg hinauf; zu Haus in meinen sessel geworfen hielt ich zuerst den gedanken fest, daß ich durch eine providentiale guthat in dem 78sten Frühling, der mir blühete, den mann geniessen konnte, den ich unter den Weisen und den Rechtschaffenen vor allen ehrete und liebete; der von dem Rande des Grabes über die Alpen am Meer und die Alpen des h. Gotthards aus Berlin zu mir gekommen. Ich erkannte wie undankbar es wäre, wenn ich Ihren Abschied klagete, wie neidisch wenn ich Sie nicht andern wakern männern gönnete. „Sein ἐιδωλον”, sagt' ich zu mir selbst, „wird mir doch beständig vor der stirne schweben, und seine Reden werden m. gedächtniß jahre lang, wenn ich jahre zu leben hätte, unterhalten. Noch ist in seiner Theorie der schönen Künste sein Geist in seiner vollen Kraft bey mir. Von der Freudigkeit seines Gemüthes hat das meine, das ohnedem nicht trüb ist, eine Heiterkeit in diesem Winter meiner jahre geschöpfet.”

Den folgenden tag fand Reich mich ganz munter, er wird mich den sachsen im schönsten licht vorstellen; selbst Weissen, doch dieser muß mir verzeihen daß ich seine Trauerspiele nicht lesen kann. Dagegen bin ich herzlich geneigt ihm zu erlauben daß er die meinen zu Asche verbrenne. Hat nicht die Bibliothek der Ptolomäer, wie der Gansköpfe in Popens Dunciade gebrandt?

Aber wird Klopstok mir verzeihen, daß ich den Tod Adams wieder bearbeiten durfte? Werden Sie, mein gütiger, nicht für mich erschreken daß ich eine that gewaget habe, wo ich, fragen sie Klopstok, nothwendig erliegen muste? Ich erwarte daß er in seiner gelehrten Republik mich verurtheile unter Stirnrunzeln und naserümpfen der zuseher den sattel oder den Hund zu tragen.

Wenn Sie, mein theurer, in diesen Einfällen den kindernden alten erbliken, so freuen sie sich mit mir daß ich in diser neun und sibzigsten Canicula über meinem haupte nicht noch kindischer kindere. Sie kennen doch epileptische genies in Milchhaaren die es ärger machen.

Ich kann über dies alles lachen, aber ich werde ernsthaft wenn ich denke; welche lange, noch langweiligere, erschütternde Reise sie vor sich haben, und aus furcht bey disem Gedanken ins schwerfällige zu fallen muß ich abbrechen. Reisen sie glüklich; leben sie fröhlich wie in den goldenen tagen, die sie mit unserm liebsten andern Sulzer in Wülflingen lebten. – Ich umarme sie beyde.

ganz der Ihrige
Bodmer.

La. hat dem grafen Colonna ein Ideal von einem Christus von seiner Erfindung gezeiget, wovon er sagt, wenn ihm ein Mensch mit denselben Zügen begegnete, so wollt er vor ihm wie vor Christus auf die knie niderfallen und anbeten.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Eigenhändige Korrekturen

Reisen sie glüklich
LebenReisen⌉ sie glüklich

Stellenkommentar

Abschied
Seinem Reisetagebuch zufolge hatte sich Sulzer vom 5. bis 13. Juni in Zürich aufgehalten und war dann nach Wülflingen weitergereist. (1780, S. 392).
fand Reich mich ganz munter
Nähere Details zum Besuch von Philipp Erasmus Reich bei Bodmer nicht ermittelt.
wie der Gansköpfe in Popens Dunciade
Anspielung auf die abgebrannte Bibliothek von Alexandria und den Brand des Bücherhaufens am Anfang der Dunciad (J. J. Bodmer, Alexander Popens Duncias, 1747, S. 6–9).
den Tod Adams wieder bearbeiten
Bodmers Der Tod des ersten Menschen; und die Thorheiten des weisen Königs. Zwey religiose Dramen waren 1776 erschienen. Zur Entstehung von Der Tod der ersten Menschen als Antwort auf Klopstocks Tod Adams und zu Die Thorheiten des weisen Königs als Parodie auf dessen Salomo siehe Bodmers Briefe aus dem Jahr 1764.
den sattel oder den Hund
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1776-03-22.html.
Canicula über meinem haupte
Gemeint sind die im Juli und August herrschenden heißen »Hundstage«, abgeleitet von »Canicula« (»Hundsstern«).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann