Brief vom 24. Dezember 1774, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 24. Dezember 1774

Ihr Brief vom 30 Nov. mein theürester, hat meine ganze Seele erquikt; weil ich Sie darin in der Munterkeit und Heiterkeit erblike, die mir ihrem Vorhergehenden zu fehlen schien, weßwegen ich auch seit dem Empfang deßelben immer etwas Finsteres in meinem Gemüthe verspührt, bis daß dieser lezte Brief die Nebel völlig daraus vertrieben hat. So natürlich es auch scheinet, daß ich 55jähriger Mann, Sie überleben sollte, so sehr fürchte ich mir vor dieser natürlich scheinenden Sache. Seit dem Anfange meiner Krankheit habe ich hier die zwey einzigen wahrhaftig vertrauten Freünde, die ich gehabt, Stahl und Germershausen verlohren und dies macht mich ungemein schüchtern. Aber izt, da ich Sie in ihrer jugendlichen Munterkeit erblike, habe ich wieder neüen Muth gefaßt.

Es macht mir eine ausnehmende Freüde, daß ich Ihnen durch mein Werk einiges Vergnügen verursachet habe, und dieses wird mich für alles unbillige und vielleicht gar beleidigende, was die Jurnalisten mir darüber sagen möchten, völlig schadlos halten. In voller Stärke fühl ich für Sie, was Cicero für den Socrates fühlte, mit dem er lieber irren, als mit andern Recht haben wollte. Und so, wie es mich allemal äußerst rühret, wenn ich mir die Scene vorstelle, da Cicero bey Niederlegung seines Consulats, troz des Wiederstands seiner Feinde, geschworen, daß er das Amt gesezmäßig verwaltet habe, so ruffe ich Ihnen auch meinen Beyfall zu, wenn Sie auf eine ähnliche Art bey ihrer poetischen Ehre betheüren, daß Sie Leßingen in Absicht auf die Fabeltheorie, Weißen im Atreüs und Uzen im Sieg des Liebesgottes kein Unrecht gethan haben. So habe ich beständig geurtheilet. Izt, da Sie auch das Bekenntnis thun, daß Sie Leßings Stärke in dem Pathos erkennen, will ich auch Ihnen bekennen, daß ich in dem, was Sie an der Emilia Galotti aussezen, besonders in dem Punkt, da Sie die Emilia zu schwach finden, an ihre eigene Tugend zu glauben, völlig ihrer Meinung bin. Dieses ist mir in dem Charakter der Emilia immer anstößig gewesen. Izt will ich aber noch allgemeiner sagen, daß es mir scheinet, Leßing habe, seiner würklich großen Talente ungeachtet, die Gabe ein vollkommener dramatischer Dichter zu seyn, von der Natur nicht empfangen. Ich glaube wenigstens in allen seinen Stüken, doch in der Emilia am wenigsten, etwas Zwang und etwas gesuchtes oder gestudirtes in der Sprache der Handelnden Personen zu entdeken; etwas das undramatisch ist. Aber seine Anlagen des Ganzen, zeigen Geschik zum Drama. Gotters Merope habe ich nicht gelesen, und ich lege gegen Sie überhaupt das Bekenntnis ab, daß ich in der neüesten eigentlich deütschen Litteratur sehr unerfahren bin. Die dieses in meiner Theorie nicht sehen und die gegen mich übel gesinnten Jurnalisten, die mir diese Schwäche nicht vorwerffen, geben dadurch einen deütlichen Beweis, daß sie wenig scharffsichtig sind. Ich gestehe nicht nur meine Unwißenheit in diesem Fache, sondern, was noch ärger ist, meinen Mangel an Geschmak für unzählige Werke, die fast mit allgemeinem Jubel aufgenommen werden, mir aber blos kindische oder wenigstens schwache jugendliche Versuche scheinen. Wenn die izige deütsche Critische Welt genau wißte, was ich von ihren Helden denke, so würde sie eine Croisade gegen mich predigen.

Eben diese Vorstellung, die ich mir von dem Geschmak meiner Zeitgenoßen mache, macht mich auch glauben, daß ihre politischen Trauerspiele noch lange Zeit im Staub liegen werden. Man muß schlechterdings etwas stürmisch seyn, stürmisch gegen die Einbildungskrafft, oder gegen die Empfindung, wenn man den Deütschen gefallen soll.

Sie können ohne Gefahr mich zu kränken mir mehrere Proben geben, daß ihr Beyfall gegen mein Werk nicht partheyisch sey. Ich gebe Ihnen in dem, was Sie hierüber geschrieben haben, völlig recht: doch noch mit einigen kleinen Ausnahmen. Gugel bedeütet unstreitig auch eine Müze und ist in dieser Bedeütung an verschiedenen Orten, z. E. in St. Gallen in dem Munde der Leüte. Aber das hindert mich nicht ihre Erklärung von Gugelfuhr für richtig zu halten. Daß in der Meßiade Hexameter von ungewißer Scansion sind mag seyn; aber sind sie darum gut? Sind auch solche in der Aeneis?

Ramler hat allerdings Ursach mit mir zufrieden zu seyn. Denn ich habe mir große Gewallt angethan meine Wahre Meinung von ihm sorgfältig zu verbergen, um ihn zu schönen. Meines Erachtens ist er im Grund kein Dichter. Wenigstens ist es mir nicht möglich den für einen Dichter zuhalten, der ein Jahr Zeit braucht eine Ode zu machen; der nach dreyßig jährigen hartnäkigten Nachdenken und Jagen nach Gedanken, so wenig Gedanken erjagt hat. Der seine Oden so offenbar nach lang überlegten Planen, und ich möchte sagen, nach Formularen und Recepten macht und dieses ist zuverläßig Ramlers Fall. Aber er hat ein feines Ohr, und eine feine Critik, wenigstens in Absicht auf Kleinigkeiten. Aber alles dieses habe ich nicht sagen wollen; weil ich ihn nicht kränken wollte. Ich will ihm seinen Ruhm Deütschlands Horaz zu seyn, so ungeheüer falsch es mir scheint, gerne gönnen. Die übertriebene Achtung, die man für Ramlern hat, kann einigermaaßen dadurch entschuldiget werden, daß er würklich viel Geschiklichkeit hat seine Blöße zu bedeken und seine Schwäche zu verheelen, in dem er das, was die Natur ihm versagt hat, durch ausnehmenden Fleis und erstaunliche Arbeitsamkeit ersezt.

Es ist ein fürtrefflicher Einfall, daß jemand einen zweyten Werther schreiben sollte, der sich von dem Schuß wieder erholt und nun seine Empfindende Philosophie in eine denkende und urtheilende verwandelte. Aber man müßte so zu schreiben wißen, wie Göthe geschrieben hat. Göthe selbst, wann einmal das Aufbrausen der Einbildungskrafft sich etwas wird gesezt haben, und wenn er sich im Denken so stark wird geübt haben, als im Empfinden, wäre dazu am tüchtigsten. Aber izt ist er ein Feind der Vernunfft, so bald sie sich in die Geschäffte der Empfindung mischen will.

Geben Sie das nun mehr vollständig gemachte Exempl. meines zweyten Theiles in meinem Namen, welchem von den beyden, die Sie mir genennt haben, Sie wollen. Ich schäze beyde, weil sie Ihnen anhangen. Aber freylich scheinet Meister den Vorzug zu verdienen; wär es auch nur darum, daß der andre mehr Vermögen hat das Werk zu kauffen, wenn ihm daran gelegen ist, es zu besizen.

Ich habe keine Hoffnung ihre Briefe an Hagedorn von seinem Bruder zu bekommen. [→]Cet honnete-homme est le plus minutieux et le plus ombrageux des Mortels. Und izt, da er meist ganz blind ist, müßte er, um diese Briefe aus seinen papiernen Schäzen herauszufinden, einen Fremden über sein Pult laßen, wozu ihn gewiß kein Mensch bereden wird.

Angenehm würd es auch für mich seyn, wenn Göthe noch zu Ihnen käme, dann bekämen Sie gewiß in Deütschland einen Verehrer mehr. Nicht die allgem. deütsche Bibl. sondern die Lemgoische auserlesene hat über die Gelehrten Republic ausgeruffen: Mundus vult decipi. Ich weiß von ihren Verfaßern so wenig, als von denen, die an der allg. d. B. arbeiten. Rahns Parenthürsische Exclamationen über dieses närrische Buch sind eines solchen Narren wie Rahn ist, und der schwerlich seines gleichen hat, würdig. Begierig wär ich eine Recension der Republ. von Göthe zu lesen.

Soll ich Ihnen bekennen, daß Br. und St. in ihrer lezten Unterredung über die Meßiade, wovon Sie mir schreiben, mich auf ihrer Seite würden gehabt haben? Ich weiß nicht, ob meine Gründe die sind, nach denen diese Herzen urtheilen. Die meinigen betreffen hauptsächlich Klopstoks Theologie, die mir noch weit stärker gegen die Vernunfft zu streiten scheinet, als die Homerische. Homers Theologie ist nur kindisch, Klopstoks seine ist der Vernunfft zu sehr entgegen. Dann kommt noch dieser merkliche Unterschied hinzu, daß das göttliche in der Ilias zufällig, das menschliche aber die Hauptsach ist; in der Meßiade ist es gerade umgekehrt; das menschliche verschwindet beynahe neben dem Göttlichen und ist blos episodisch. Die Zeiten sind vorbey, da man den Menschen alles weis machen konnte, was man wollte. Indeßen können Sie sich damit trösten, daß so lang ein Fragment von der Meßiade übrig bleiben wird, das die Leüte verstehen, Klopstok für den größten Dichter wird gehalten werden. Man kann in der That ein Bewundrer von Klopstok seyn, und glauben, es werde die Zeit kommen da man die Meßiade nur in Fragmenten lesen wird.

Sie sehen leicht, mein Theürester, daß dieser Brief nur für Sie geschrieben ist. In der Critik, wie in der Theologie giebt es Wahrheiten, die man nicht laut sagen därff, weil sie Ärgernis verursachen, und ohne Noth Verfolgung nach sich ziehen. Ich umarme Sie von Herzen. Lambert trat wenig Stunden nachdem ich ihren Brief erhalten hatte in meine Stube und ich sah mit Vergnügen die Freüde die ich ihm machte, da ich ihm ihren Gruß las.

JGSulzer.

den 24 Dec. 74.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Körte 1804, S. 421–428.

Eigenhändige Korrekturen

Arbeitsamkeit ersezt
Arbeitsamkeit bedekt ersezt

Stellenkommentar

vom 30 Nov.
Schreiben Bodmers, auf das sich Sulzer hier in vielen Punkten bezieht, nicht überliefert.
Stahl und Germershausen verlohren
1772 war der auch mit Hirzel seit dessen Aufenthalt in Potsdam 1747 gut bekannte Apotheker und Hofrat Georg Ernst Stahl und 1774 der mit Sulzer seit dessen Magdeburger Zeit befreundete Obertribunalsrat Johann Stephan Germershausen, dessen umfangreiche Bibliothek der Herzog von Kurland für das Gymnasium in Mitau erwarb, gestorben.
Ramler hat allerdings Ursach
Sulzer würdigte Ramler mehrfach im zweiten Teil der AT. Im Artikel »Klang (Redende Künste)« schreibt er u. a.: »Die Dichter, denen unsre Sprach in diesem Stük am meisten zu Danken hat, sind unstreitig Klopstok und Ramler.« (Sulzer, AT, Bd. 2, 1774, S. 588).
Ruhm Deütschlands Horaz
Vgl. Košenina Ramler in der zeitgenössischen Rezeption 2003.
Cet honnete-homme est
Übers.: »Dieser ehrliche Mann ist der minutiöseste und schwierigste der Sterblichen.«
wenn Göthe noch zu Ihnen
In einem Schreiben von Heinrich Schinz an Bodmer vom 20. November 1774 findet sich ein Auszug (von Bodmers Hand) aus einem Schreiben Goethes, in dem es heißt: »Bodmers Billet hat mich erfreut. [...] Er will mich sehen.« (ZB, Ms Bodmer 7.316). Bodmer stand offensichtlich mit Goethe in Kontakt und hatte ihn nach Zürich eingeladen. Zum Besuch Goethes bei Bodmer im Juni 1775 vgl. Brief letter-bs-1775-08-02.html und Kommentar.
Mundus vult decipi
Übers.: »Die Welt will betrogen sein.« – Die umfassende Rezension zum ersten Teil von Klopstocks Gelehrtenrepublik findet sich allerdings erst im Jahr 1775. Vgl. Lemgoische Bibliothek, Bd. 7, 1775 S. 283–311. Wahrscheinlich wusste Sulzer im Winter 1774 bereits von der Besprechung.
Verfaßern so wenig
Jakob Mauvillon und der 1774 verstorbene Ludwig August Unzer arbeiteten maßgeblich an der Lemgoischen Bibliothek mit.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann