Brief vom 19. November 1774, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 19. November 1774

Nach sehnlicher und ungeduldiger Erwartung bekomme ich endlich ihren Brief vom 9 Nov. Ihre Freündschafft, mein theürester, ist würklich izt das höchste Gut meines sonst an Freüden ziemlich leeren Lebens. Seit dem ich mein Ländliches Haus habe verlaßen und mich zwischen finstere Mauren einsperren müßen, sind Sie würklich meine einzige Gesellschafft. Schon mehr als hundert ihrer Briefe habe ich in diesen zwey Monaten abgeschrieben, und die Noachide, nebst ihren Trauerspielen sind inzwischen meine Lectüre. Meine Gesundheit hat in dem Grad abgenommen, wie die Annehmlichkeiten des Herbstes bey dem frühen Eintritt des Winters abgenommen haben. Ich komme nicht aus meinem Cabinet und nur einmal die Woche laße ich mich, um nicht aller Gesellschafft beraubet zu seyn, in die Versamlung der Academie der Wißenschafften fahren, wo ich doch eine Stunde lang in Gesellschafft meiner Collegen bin. Die übrige Zeit sind Sie meine Gesellschafft; aber Sie ersezen mir reichlich den Abgang der andern. In dem ich ihre Briefe der Ordnung nach abschreibe führe ich das Leben der vertraulichen Freündschafft, das wir diese dreyßig Jahre hindurch mit einander geführt haben, noch einmal, und genieße es izt ganz, da keine Zerstreüung, keine Projekte, keine Sorgen, mich darin stören. Es ist eine überaus angenehme Vorstellung für mich, zu denken, daß die künftigen Leser dieser Briefe Sie viel Jahre hindurch in ihrem Cabinet und in ihren Hauskleidern in einer Gestallt sehen werden, darin Sie keine schlechtere Figur machen, als in den FeyertagsKleidern, in denen ihre Schrifften Sie zeigen. In dem ich dieses Vergnügen denen, die nach uns kommen werden, zubereite, fällt es mir ofte wieder ein, was ich seit vielen Jahren gelegentlich gedacht habe, daß das Vergnügen, welches wir andern auch nach unserm Tode machen, und der Unterricht, den wir ihnen dann noch geben, würklich das einzige ist, was sich von dem Leben in der Menschen Ohren reelles denken läßt. Ich habe wenigstens, wenn ich dieses wegnehme, nicht den geringsten Begriff von Nachruhm; der mir so undenkbar ist, als ein vierekigter Zirkel. Aber so bald mir einfält, ich könne izt etwas thun, womit nach meinem Tode jemandem würde gedienet seyn, so thue ich es mit Vergnügen, und die Vorstellung, daß kein Mensch jemals erfahren werde, wer es gethan, hat nicht die geringste Krafft dieses Vergnügen zu mindern.

So sehr ich mit mir selbst zufrieden bin, den Einfall gehabt zu haben, Sie meinen Nachkommen im Schlaffrok und in der Müze zu zeigen, so sehr bin ich mit dem ihrigen zufrieden, daß Sie mich mit in ihr Grab nehmen wollen. Beßer können Sie mich nicht ehren. Aber ich fodere von Ihnen, daß dieses nicht ein bloßer Einfall sey, sondern eine Sache, für deren Ausführung Sie ernstlich sorgen.

Nachdem ich das lezte Wort in meiner Theorie geschrieben, habe ich bey mir selbst ein sehr nachdrükliches Dixi, hinzugesezt. Was ich zu sagen hatte, habe ich nach meiner Art gesagt, und nun kein Wort mehr. Hören sie das nicht, so würden sie, so stolz denke ich, auch nicht hören, wenn Todte auferstünden, um die Wahrheit zu predigen, oder wenn Apollo selbst käme, ihnen die rechte Bahn zu weisen. In der völligen Überzeügung, daß es verlohrne Arbeit ist, Leüten, die die Hände für das Gesicht halten, um nicht zu sehen, den beßern Weg zu weisen, oder gegen einen reißenden Strohm einen Damm zu sezen, schreibe ich kein Wort mehr über Geschmak und Werke des Geschmaks; es sey denn daß mich die Lust ankommen sollte, zu untersuchen, wo ich geirrt habe; da ich denn meinen Irrthum gerne wiederruffen würde.

Mir kommt die deütsche Welt, die sich mit Werken des Geschmaks abgiebt, wie eine Heerde Schaffe vor, die über die Felder und Fluren ohne Zwek herum irrt, bis hier und da ein Dux gregis auf einmal, einer dahin, der andre dorthin läufft, da dann jedem ein Theil der Heerde, ohne zu wißen warum, nachläufft und da stille steht, wo er selbst aufhöret zu lauffen.

Die Verse in der Noachide, die entweder meinem Ohr noch nicht sanffte genug klingen, oder die meinem Geiste nicht intereßant genug sind, haben sich auf eine kleine Zahl vermindert. Die Trauerspiele sind im Materiellen oder wesentlichen ganz nach meinem Sinne; aber an manchen Stellen kann ich mich mit dem Ausdruk nicht vertragen; nicht blos, weil er mir fremd ist, sondern; weil er mir gesucht vorkommt, da ich doch weiß, daß man in solchen Umständen ihn nicht sucht. In der Epopöe, wo der Dichter spräche, wollte ich noch manchen stehen laßen. So haben mich Winkelmans entzükende Beschreibungen einiger Antiken, nicht beleidiget; aber daß die wollüstige Julia, von dem jüngeren Antonius gerade in den selben Ausdrüken sprechen soll, ist mir unnatürlich. Winkelman ist von einem ganz geistigen Raptu eingenommen und Julia ist ganz fleisch; also können beyde nicht eine Sprache führen. Ihr Cicero hat mir dieser Tagen süße Thränen ausgepreßt; und ihr Marcus Brutus hat meine Seele erhöhet. So fließen meine sonst von beständigem Gefühl meiner Leibesschwachheiten unangenehmen Tage, in ihrer Theüren Gesellschafft nicht ohne Vergnügen dahin: Wenn ich müde bin von Lesen und Schreiben, dann strike ich Fischer Neze, und seze mich dabey in Gedanken zum voraus in den künftigen Frühling, wo mich ländliche Beschäfftigungen ergözen werden.

Fast täglich besucht mich auf einige Minuten ein Abbé Blaarer von Schmerikon am Züricher See gebürtig, der Aumonier des Kayserlichen Gesandten ist. Ein sehr braver Mann, der aber von seinem Vaterlande nichts weiß, als daß das Land um den Züricher See herum eines der angenehmsten Länder der Welt ist. Die Namen Tell und Stauffacher und Bodmer und Kleinjogg waren ihm unbekannte Namen; aber Spalding und Teller und Sak – sind seine Freünde. Den Prof. Müller sehe ich so selten, daß seine Besuche bey mir ohngefehr so sind, wie die Besuche reisender Züricher. Er ist ofte krank, doch immer mehr am Gemüth, als am Körper.

Die Rede geht, daß Dr. Göthe aus Frankfurth hier sey, um die Vorstellungen seines Götze und seines Clavigo auf dem Theater zu sehen. Ersteren hab ich auch gesehen, aber das verworrene und verwirrende Schauspiel nicht bis ans End aushalten können. Hartman ist noch immer unruhig, in seinen urtheilen voreilig und verwegen. Er will noch nicht begreiffen, daß er ein beruffener Diener eines Fürsten ist, der ihn zu keinem unedeln Geschäffte beruffen hat, es so auszuführen, wie der vernünfftige Plan des Fürsten es erfodert. Er will selbst Plane machen und an Seilen ziehen, die man nicht ihm, sondern andern in die Hände gegeben. Ich habe genug zu thun zu verhindern, daß diese jungen hizigen Leüte den Herzog nicht ungeduldig machen. Aber dieser Fürst hat würklich Achtung für sie und duldet ihr oft ungestühmes Betragen.

Es scheinet, daß mir ein nicht ungewöhnliches Schiksal zu theil geworden, es mit zwey entgegen gesezten Parteyen gleich übel verdorben zu haben. Ramler, Weiße, Herder, Wieland sagen, ich habe es ihnen zu arg gemacht, und die andern sind unzufrieden, daß ich es nicht ärger gemacht habe. Und ich finde noch immer, daß ich es gerade recht gemacht habe. Absque invidia et amore. Sollte mir aber übel begegnet werden, so wünsche ich, daß Sie mein theürester, sich deßhalb nicht mehr Sorge machten, als ich mir selbst mache. Denn würklich fichtet dieses mich nicht an. Da ich nach Herzenslust geredet habe, mag ich es leiden, daß andre daßelbe thun.

Aus der neüen Auflage des Kleinjoggs, die Dr. Hirzel mir geschikt hat, sehe ich, daß er den Gleim nicht so kennt, wie ich ihn kenne. Ich dächte die Expostulationen gegen Jovem im Prometheüs, oder die Geduld der Athener, sie zu ertragen, sollten Ihnen kein Räthsel mehr seyn. Wenigstens bilde ich mir noch immer ein, dieses Räthsel aufgelößt zu haben. Es ist daßelbe Räthsel, warum Cäsar bey seinen Triumphen ertragen hat, daß seine Soldaten scandaleuse Liederchen auf ihn absangen.

Sie sagen mir nicht, ob Reich eben so nachläßig gewesen Ihnen ein complettes gebundenes Exempl. meiner Theorie für Hrn. Wegman zu schiken, als er es wegen der fehlenden Bogen gewesen; und doch ist mir daran gelegen, daß Hr. Wegmann wiße, ich habe das einzige Zeichen meiner Dankbarkeit gegen ihn, daß er mir ihm zu geben erlaubt hat, nicht versäumt zu geben. Über diesen Punkt wünsche ich unterrichtet zu seyn. Ihre Anmerkung über Klopstok und Füßli in Rom bestätige ich mit meinem Amen! Von der Tragödie habe ich nicht den Hohen Begriff, daß die Domestichezza im Adelbert, dieses Sujet ganz ausschließe. Die Odyßee hat ja diesen Charakter auch. Es kommt auf die Größe der Charakter an, die sich auch in privat Geschäfften entwikeln kann. Was ist Jerusalem delivrée par Rousseau? Denken Sie daran, mein Theürester, daß der Tod des einen, oder des andern von uns; uns bald hindern wird unsre Correspondenz fortzusezen. Laßen Sie uns diese Wolthat genießen, so lange wir können. Ich umarme Sie von ganzer Seele.

JGSulzer

den 19 Novemb. 74.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Körte 1804, S. 413–420.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der ersten Seite: »accepi 29 novembri, 30. respondi«. – Vermerke Bodmers auf der zweiten Seite: »Salvasti animam tuam!« (Übers.: »Du hast dein Leben gerettet!«) »Peut-il y avoir, dit Saville, de lons ouvrages dans un pays où il n'est permis d'ecrire ni sur le gouvernement ni sur la religion?« (Übers.: »Kann es lange Werke, sagt Savile, in einem Land geben, wo das Schreiben weder über die Regierung noch über die Religion gestattet ist?« Bodmer zitiert hier einen Satz des englischen Gelehrten George Savile Halifax, den Thiry d'Holbach in einer Anmerkung zu seinem anonymen Système social von 1774 in französischer Übersetzung anführt). – Vermerk Bodmers auf der dritten Seite, gegenüber dem Text »Blaarer von Schmerikon am Züricher See«: »Wartensee am Bodensee«.

Eigenhändige Korrekturen

Winkelman
Wieland Winkelman

Stellenkommentar

Dixi
Übers.: »Ich habe gesprochen.«
Dux gregis
Übers.: »Leithammel«.
Winkelmans entzükende Beschreibungen
Vgl. Winckelmanns berühmte Beschreibungen des Apoll und des Torso vom Belvedere sowie des Laokoon.
daß die wollüstige Julia
Vgl. die entsprechende Szene in: J. J. Bodmer, Octavius Cäsar. In: Ders., Politische Schauspiele, Bd. 2, 1769, S. 38.
Abbé Blaarer von Schmerikon
Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1774-09-20.html.
daß Dr. Göthe aus Frankfurth hier sey
Fehlinformation Sulzers. Goethe, dessen Götz von Berlichingen und Clavigo im März 1774 im Königlichen Theater in Berlin uraufgeführt wurden, war nur einmal im Jahr 1778 in Berlin. Vgl. Brief letter-sb-1778-08-28.html und den dazugehörigen Kommentar. Vgl. auch Bodmer an Lavater, 6. Dezember 1774: »Herr Sulzer schreibt mir, das gerücht gehe, Hr. Dr. Göthe sey in Berlin die vorstellung seines Berlichingens zu sehen. Ist es gewiß?« (ZB, FA Lav Ms 502.256).
neüen Auflage des Kleinjoggs, die Dr. Hirzel mir geschikt
Der die Sendung begleitende Brief Hirzels, in dem offenbar auch von Gleim die Rede war, ist nicht ermittelt. Sulzer bedankte sich in einem Schreiben vom 23. Dezember 1774 mit den Worten: »Tausend dank für die neüe Ausgabe ihres Kleinjoggs. ich sage Ihnen die Wahrheit, wenn ich Sie versichere, daß ich lieber dieses Werk als die theorie der Sch. K. möchte geschrieben haben. Daraus können Sie urtheilen, ob ich es mit Vergnügen gelesen habe. [...] Ich weiß nicht, ob ich unsern ländlichen Philosophen der einen solchen Geschichtschreiber gefunden hat; oder Sie, der einen solchen Stoff gefunden, glüklicher preisen soll.« (ZB, FA Hirzel 237).
Jerusalem delivrée par Rousseau
Die damals aktuelle und beim Publikum überaus beliebte französische Übersetzung von Torquato Tassos La Gerusalemme liberata (dt. Das befreite Jerusalem) mit dem Titel Jérusalem délivrée. Poëme du Tasse. Nouvelle traduction. Die anonyme Publikation von Charles François Lebrun wurde vielfach Rousseau zugeschrieben.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann