Brief vom 27. Januar 1771, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 27. Januar 1771

Hier bekommen Sie, mein theürester Freünd, alles, was bis dahin von meinem Werk heraus gekommen ist. Ich hoffe, daß Sie mit der Hauptsache werden zufrieden seyn; wenigstens glaube ich meiner Sache in diesem Stük so sicher zu seyn, daß ich das Werk mit vollem Vertrauen in die Welt schike. Daß aber gute Gedanken viel mal nachläßig, oder steiff, oder schwach ausgedrükt sind mußte ich geschehen laßen, weil es mir zu viel Zeit würde gekostet haben, allemal den besten Ausdruk deßen ich hätte fähig seyn können zu erreichen. Also habe ich hauptsächlich in diesem Stük Nachsicht nöthig. Im ganzen wird doch das Werk von einigem Nuzen seyn und bey manchem der izt schwankende oder gar falsche Begriffe von den Schönen Künsten hat, den Grund zu einem sichern Geschmak legen. Sollten Ihnen beym Durchblättern dieser Bogen Dinge beyfallen, die Sie gern hier oder da in diesem Werk möchten angebracht wißen, so schreiben Sie doch alles kurz auf, und laßen es mir zukommen. Es wird sich wol in der Folge für jedes noch eine schikliche Stelle finden. Also erwarte ich aphorismos und vermischte Anmerkungen von Ihnen. Nur in das polemische mag ich mich gerade zu nicht einlaßen, weil es mir der Natur eines solchen Werks zuwieder scheint. Finden Sie, das ganze Artikel, die von A bis E. hätten stehen sollen, ausgelaßen sind, welches ich sehr vermuthe, so suchen Sie ein Wort aus unter welchem sie stehen könnten, damit ich sie nachhole.

Mit ungemeinem Vergnügen habe ich den Artikel ihres lezten Briefgens gelesen, darin Sie mir von ihrer noch immer anhaltenden Lust zur Arbeit sprechen. Eine Abschrifft von ihrem Schreiben an Wieland, würde mir höchst angenehm seyn. Ich weiß nicht mehr was ich von diesem seltsamen Menschen denken soll. Sein Amadis der izt herauskommt, ist voll Crebillonischer Zoten, und verräth überhaupt eine völlige Verachtung aller Moralität. Er kann leicht ein schlimmerer Voltaire werden. Ich hatte noch immer gehoft, daß seine Beßere Seele endlich die Oberhand gewinnen würde. Etwas muß an seinem Beruff nach Gießen seyn; ich weiß aber nicht, wie weit die Sache gekommen ist. Meiner Vermuthung nach, kann er nirgend lang bleiben.

Die Gratien im Kleinen sind hier gewesen, aber ich habe sie nicht zu sehen bekommen, weil ich die Zeit nicht hatte nachzuforschen, wo sie aus den Buchläden hingekommen waren.

Herr Orell würde sich ohne Zweifel seinen Aufenthalt hier mehr zu Nuze gemacht haben, wenn er nicht einen gar zu trägen Gefährten bey sich gehabt hätte. Klopstok hält sich gegenwärtig bey Bernsdorff auf seinen deütschen Gütern auf, soll aber noch sein Gnadengeld bekommen. Ich dächte die Noachide sollte in Frankreich beßer, als die Meßiade aufgenommen werden, eben deßwegen, weil sie minder ätherisch ist. Ich würde aber Junkern rathen den Geschmak der Nation durch Übersezung des Jacobs vorzubereiten; dieses Gedicht sollte meines Erachtens in jedem Land von Eüropa Beyfall finden.

Es haben sich viele Familien aus ihrer Gegend bey uns um Brod und um Aufnahm gemeldet. Sie sind willkommen, ob es ihnen aber, wenn sie einmal wieder satt worden, noch in diesem Land gefallen wird, daran zweifle ich. Auch hier ist Noth um Brod, nur in der Hauptstatt fühlt man sie nicht. Es scheinet, daß ihr Staat nicht nur durch einen glüklichen Wurff entstanden, sondern daß er sich auch blos durch wiederholte ungefähre Würffe erhalte. Wenigstens sehe ich nicht, was dazu für Anstallten gemacht werden, und doch scheint mir die Sache bey einer so einfachen Maschine, ganz leicht zuseyn. Aber es scheinet, daß die Kräffte der heütigen Eüropäischen Seelen im ganzen so abgenommen haben, daß ein Solon kaum mehr möglich ist. Alle äußern Mittel jeden ihrer Cantone besonders zu einem glüklichen Land zu machen, sind würklich vorhanden; also ⟨fehlt es⟩ nur an den innern.

Gestern habe ich an den Hofpred. ⟨Cramer⟩ in Koppenhagen geschrieben um ihm auf höhern Befehl die Stelle eines Abts im Closterbergen anzutragen. Man sagt, daß jeder, noch einiges Gefühl habende Mensch izt gern aus Dänemark wegziehen möchte.

Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

JGSulzer

den 27 Jan. 1771.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

An Herrn Professor Bodmer in Zürich

Einschluss und mit gleicher Sendung

Einzelne Bögen des ersten Teils von J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste.

Vermerke und Zusätze

Siegel.

Stellenkommentar

voll Crebillonischer Zoten
Anspielung auf den französischen Romanschreiber Claude-Prosper Jolyot de Crébillon, der für seine unmoralischen Texte bekannt war und damit Einfluss auf Wieland ausübte.
Familien aus ihrer Gegend
Infolge von Missernten und Hunger kam es in den Jahren 1770–71 zu einer neuen Auswanderungswelle von Schweizer Bauern nach Preußen, insbesondere nach Pommern. Vgl. dazu Zuber Zürcherische Auswanderung 1931, S. 76–83.
an den Hofpred. ⟨Cramer⟩ in Koppenhagen
Textverlust an dieser Stelle. Es handelt sich um Johann Andreas Cramer, der Hofprediger in Kopenhagen war. Siehe dazu auch Brief letter-bs-1771-03-23.html. Sulzers Brief an ihn nicht ermittelt.
aus Dänemark wegziehen
Anspielung auf die harte Spar- und Reformpolitik von Johann Friedrich von Struensee, der zugleich einer der fortschrittlichsten Denker und Politiker der Aufklärung war. Struensee wurde 1772 wegen seiner Affäre mit der dänischen Königin Karoline Matilda hingerichtet.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann