Brief vom 6. April 1760, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 6. April 1760

Mein theürester Freünd.

Ich befinde mich jezo in den Umständen der Noachiden, die noch ehe sie sich in die einsame Arche einschloßen den Garten Edens besuchten. Seit acht Tagen befinde ich mich auf der glükseeligen Insel bey Magdeburg, wo ich meine Wilhelmine zuerst gefunden; ich besuche alle die Örter wo sie ehedem entweder einsam der Weisheit nachgegangen, oder von mir eingeholt sich zu den zärtlichen Gesinnungen gebildet, wodurch sie mich ehedem so glüklich gemacht hat. Ich irre einsam herum und schmeichle mir ofte mit der süßen Hoffnung ihre Fußtritte noch zu entdeken, oder gar irgendwo ihrer Erscheinung zu genießen. Meine einzige Lust ist mich hier der zärtlichen, aber Gott Lob, mit keiner Art von Unruhe begleiteten Traurigkeit zu überlaßen, die meine ganze Seele eingenommen hat. Der junge Hr. Bachman, mein ehemaliger Schüler und treüeste Freünd, den ich hier habe, hat mir seinen schönen Garten so überlaßen, daß ich mit allen möglichen Bequämlichkeiten ganzlich einsam seyn kann, welches jezo mein einziger Trost ist. Von fünf Uhr des Morgens, da ich aufstehe bis auf den Mittag bin ich in einer vollkommenen Einsamkeit, und kann mich allen Empfindungen meines Herzens überlaßen. Einen Theil dieser Zeit wende ich zum Spazieren gehen an, und wohin mein Fuß tritt, findet er die Fußstapfen der theüren geliebten, wenn ich vom herumirren müde bin, so beschäftige ich mich damit, daß ich meine ehemalige Glükseeligkeit, das Liebenswürdige Leben meiner theüren Wilhelmine meiner Feder anvertraue. Ich will versuchen ob ich ihre seltene Verdienste der Nachwelt kann bekannt machen. Dies ist, mein theürester Freünd alles, was ich Ihnen von meinen gegenwärtigen Umständen sagen kann. Da ich jezo in der Traurigkeit und in dem Andenken meiner ehemaligen Glükseeligkeit mein einziges Vergnügen finde, so gehen meine Tage ziemlich schnell und ohne Unruhe vorbey: nur därff ich es noch nicht wagen wieder an Berlin zudenken; ich zittere über die Vorstellung, daß ich in kurzem wieder in mein Haus, zu meinen Geschäften, und sogar zu meinen Kindern zurüke kehren soll. Meine Neigung wäre hier, nach dem ich von der Wollust die geliebte zu beweinen gesättigt seyn werde, mein Leben zu beschließen. Mehr kann ihr trauriger Freünd diesmal nicht schreiben.

Leben Sie wol, und grüßen Sie meine Freünde. Ich verbleibe von Herzen der ihrige.

Sulzer

den Ostertag.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Körte 1804, S. 321–323.

Anschrift

Monsieur Bodmer Professeur très celèbre à Zurich frcò Nrnb:.

Vermerke und Zusätze

Siegelreste. – Blatt an einigen Stellen abgerissen.

Stellenkommentar

Umständen der Noachiden
Vgl. [J. J. Bodmer], Noah, 1752, S. 173–184. Im sechsten Gesang des Epos besuchen die Söhne Noahs noch einmal den Paradiesgarten ihrer Vorfahren und empfinden dort Leben und Verfall des ersten Menschenpaares nach.
Insel bey Magdeburg
Der Magdeburger Werder, auf dem Heinrich Wilhelm Bachmann d. Ä. ein Grundstück als Sommersitz mit weitläufigem Garten besaß. Vgl. auch Kommentar zu Brief letter-bs-1745-09-06.html.
meine Wilhelmine zuerst gefunden
Die erste Begegnung Sulzers mit Wilhelmine Keusenhoff datiert auf den Winter 1743/1744. Vgl. E. Décultot, Einleitung, SGS, Bd. 1, S. XXI–XXIII). Zum Bachmann'schen Garten und dessen Rolle in der Beziehung und im Briefwechsel Sulzers und Wilhelmine Keusenhoffs vgl. Kittelmann W. Keusenhoff und die Briefkultur der Empfindsamkeit 2019.
der Nachwelt kann bekannt machen
Sulzers Vorhaben, eine Gedächtnisschrift für seine Gattin zu verfassen. Vgl. Brief letter-sb-1760-05-27.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann