Brief vom 15. September 1750, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 15. September 1750

Mein lieber Freünd.

Wenn ich auf meiner Reise von Zürich aus jemanden bey mir gehabt hätte, dem ich alles, was ich unterwegens von Ihnen gedacht und was mein Herz empfunden hat, hätte in die Feder diktiren können, so würden Sie dadurch einen Brief von mir bekommen haben, der einigermaßen den Freündschaftsbezeügungen angemeßen wäre, die ich von Ihnen in so vollem Maaße empfangen habe. Es ist aber beßer, daß ich jezo einen solchen Brief nicht schreiben kann; denn wenn er den andern Freünden zu Gesichte käme, so würden sie eyfersüchtig werden, und sie hätten auch Ursache es zu seyn. Ich sage also nichts mehr, mein werthester Herr und Freünd, als, daß mich das Andenken ihrer Freündschaft auf das allerzärtlichste rühret, und daß Sie, Sie allein, wenn ich auch sonst keinen Freünd angetroffen hätte, es machen, daß ich diese Reise unter die allerseeligsten Begegniße meines Lebens zähle. Ich wünschte mehr ihrenthalber, als irgend einer andern Ursache wegen, mein Leben in Zürich zuzubringen. Doch warum hinterhalte ich Ihnen solche Gesinnungen nicht, da doch alles, was ich davon ausdrüken kann, meines Herzens noch nicht würdig genug ist. Ich kann nichts mehr sagen, als dieses einzige. Ich liebe Sie von Herzen und bin Ihnen von ganzer Seele ergeben.

Von meiner Reise habe ich nicht viel zu schreiben. Ich habe in Frkf. den Hrn. von Loen, auf sein ausdrückliches Ersuchen, besucht. Es ist ein guter ehrlicher Mann, der aber, wie mich dünkt nicht viel weiter siehet, als der gebahnete Weg gehet, und ich glaube, daß ich ihn wollte überreden können, daß er mehr Einsicht und Verdienst habe, als Leibniz oder irgend ein andrer großer Mann. In Göttingen besuchte ich Hrn. Haller, der sich sehr freündschaftlich nach Ihnen erkundiget, ehe er mir Zeit gelaßen, den Gruß zu bestellen. Er sprach viel von Poesie mit mir, das meiste betraf den Meßias und Noah. Er meint, daß im Meßias Sachen sind, die man nicht könne stehen laßen. Unter diese zählt er, daß Satan den Samma zwingt seinen Sohn in Gegenwart des Erlösers zu zerschmettern. Er sagte mir, daß sein Freünd, Hr. Werlhoff noch nicht im Stande sey die Hexameter zu lesen, und daß er ihm den Rath gegeben, den wir allen schwachen geben, daß er diese Gedichte, als Prosa lese.

Die Eyerkuchen möchte er sehr gerne aus ihrem Gedicht heraus haben, und er besorget, daß die Historie von dem Luftschiff auch ins spaßhaffte einschlagen möchte, welches er noch von andern Stellen sagt. Ich habe ihn übrigens sehr liebenswürdig gefunden. Hr. Prof. König aus Franeker kam zu ihm, als ich da war, der sich über ihr Wolseyn sehr freüt. Wir kamen bey seiner Anwesenheit bald auf mathematische und andre Reden, die ich Ihnen nicht schreiben will. Ich bedaurte, daß ich mich nicht länger in so angenehmer Gesellschafft aufhalten konnte. Ich besuchte auch Hrn. Gleim, der sich sehr wunderte mich ohne Klopstoken wieder zu sehen. Ich kam endlich glüklich in Magdeburg an. Aber wie bestürzt war ich, als ich da meine Freündin, die Freüde meines Lebens, tieff im Bette in einer hizigen Krankheit fand! Es war ein Glük, daß ich nicht einige Tage eher angekommen, da sie weit gefährlicher krank war. Ich hätte Ihnen, ohne diesen Zufall gleich Nachricht von meiner Ankunfft gegeben. Jezo befindet sich die Werthe wieder beßer, und wird in wenig Tagen, wie ich hoffe wieder ganz gesund seyn. Ich werde übermorgen wieder von hier aufbrechen um nach Berlin zugehen. Ich bitte Sie sehr mir, wie Sie es versprochen, ofte und viel zu schreiben, und insbesonder die Abschrifft des Noah nicht zu vergeßen, wenn Sie mir dieselbe nicht schon würklich zugeschikt haben. Empfehlen Sie mich ihrer werthesten Fr. Liebsten und dem Hrn. Can. Breitinger, dem ich auch nächstens schreiben werde. Ingl. Hrn. Kirchenschreiber.

Ich ersuche Sie noch dafür zu sorgen, daß ihr Portrait von Füßli, das in Kupfer gestochen wird in keine andre, als in meine Hände komme, ich werde es ihm billig bezahlen. Meine Liebste bittet sich die Freyheit aus, sich Ihnen empfehlen zu dürffen, ich selbst empfehle Sie ihrer Gewogenheit, die sie verdienen würde, wenn sie das Glük hätten Sie zukennen. Ich werde auf künftiges N. Jahr wieder herkommen meine künftige Mitgenoßin des Lebens abzuholen. Helfen Sie mir die Vorsehung zu bitten, daß wir glüklich seyn mögen. Adieu mein liebster und werthester Herr und Freünd. Ich bleibe

Ihr
ergebenster
Dr. Sulzer.

Magdeburg den 15 Sept. 1750.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 149–152 (Auszug).

Anschrift

Herrn Bodmer Mitglied des großen Rathes und Profeßor in Zürich.

Vermerke und Zusätze

Später hinzugefügter Vermerk Sulzers: »den 15. Sept. 1750«. – Vermerk Bodmers auf der Umschlagseite: »beantwortet den 15 nov. mit einem kleinen detail von Kl. betragen. Entdek ihm auch das depositum und dessen geschichte.« – Vermerk einer weiteren Hand auf der Umschlagseite: »Münsterhof«. – Siegelreste.

Lesarten

die
den

Eigenhändige Korrekturen

hinterhalte ich Ihnen solche
hinterhalte ich ⌈Ihnen⌉ solche
Reden, die ich
Reden, daßdie⌉ ich

Stellenkommentar

auf meiner Reise
Sulzer war am 13. Juli 1750 gemeinsam mit Klopstock, Johann Georg Schulthess und Georg Steiner nach Zürich aufgebrochen. Die Reise führte über Erfurt, Bamberg, Nürnberg und Schaffhausen, wie auf der Reise verfasste Gemeinschaftsbriefe an Rabener, Gellert und andere zeigen (Klopstock Briefe 1979, Bd. 1, S. 111–127). Die Reisegesellschaft traf am Abend des 21. Juli bei Bodmer ein (ebd. S. 377). Sulzer hielt sich auch einige Tage in Winterthur auf. Wegen seiner bevorstehenden Vermählung mit Wilhelmine Keusenhoff kehrte er bereits Ende August zurück, während Klopstock in Zürich blieb.
Frkf.
Frankfurt am Main, wo Sulzer den Gelehrten und Staatsmann Johann Michael von Loen traf.
Satan den Samma zwingt
Szene aus Klopstocks Messias, 1749, 2. Ges., S. 50.
Eyerkuchen
Bezieht sich auf eine Szene in Bodmers Noah, 1750, 2. Ges., S. 84. Die ironisch gefärbte Stelle, wo sich die Patriarchen darauf einigen, dass man die krähenden Hähne nicht verbannen sollte, da es sonst keine Eierkuchen mehr gäbe, sorgte für viel Spott unter den Dichterkollegen und Kritikern. Ramler kritisierte die Stelle in den Critischen Nachrichten: »Noch wollen wir einigen Tadel über dieses Gedicht anführen. Den Eyerkuchen halten viele für einen allzuniedrigen Umstand. Virgils aufgegessene Tische sind nicht viel ernsthafter.« (1750, Nr. 14, S. 125). Vgl. dazu auch Martin Das deutsche Versepos 1993, S. 181.
Historie von dem Luftschiff
Noah Dritter Gesang, 1750, Inhaltsangabe, S. IX. Hier bauen die abgefallenen Engel »Rephaim, Enakim, Elim« unter Anleitung der »Satane« ein fliegendes, »bezaubertes Schiff«, um das Paradies zu erstürmen. Raphael fängt sie jedoch mit einem Netz ein und wirft sie in die »Südsee«.
Hr. Prof. König aus Franeker
Zu Samuel König vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1744-00-00.html.
Liebste bittet sich die Freyheit aus
Von Wilhelmine Keusenhoff ist zudem ein undatiertes, vermutlich 1751 entstandenes Schreiben an Bodmer überliefert (ZB, Ms Bodmer 5a, abgedr. in: Körte (Hrsg.) Briefe der Schweizer 1804, S. 154 f.). Bodmer nannte Sulzers Braut und künftige Ehefrau, die sich bald als enthusiastische Noah-Leserin offenbarte, fortan häufig »meine Freundin«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann