Brief von Dezember 1744, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: Dezember 1744

1744.

Ich bin Ihnen für alle die critischen Nachrichten, die Sie mir in den Briefen an Waser von Zeit zu Zeit überschreiben, nebst Hrn Breitinger überaus verpflichtet. Wir beyde bitten, mit dergleichen Nachrichten weiter fortzufahren und hingegen zu sagen, worin wir dienen können. Der unerwartete Tod des Hrn. Conrector Pyra ist uns sehr empfindlich; weil die gute Sach einen eben so gründlichen, als Herzhaften Verfechter an ihm gehabt hat. Man hat die Verdienste dieses Mannes bey seinen Lebzeiten nicht erkannt. Oder was für Beyfall haben sein Weltbürger, seine Gedanken von der unsichtbaren Gesellschafft, seine Pindarische Ode auf des Alten Lange Licht und Recht bey den Deütschen erhalten? Ich habe einige Hoffnung, daß Hr. Gleim, oder Hr. Nauman, oder Hr. Pastor Lange uns den Verlust ersezen werden. Ich schließe hier einen Brief an Hr. P. Langen ein, den ich an ihn zu bestellen bitte. Es wäre mir sehr angenehm und für das Aufnehmen der Artigern Gelehrsamkeit sehr ersprießlich, wenn Sie sich mit Hr. Langen, oder den andern beyden über dergleichen Vornehmen unterreden und vereinigen wollten. Wir würden von hier aus das unsrige auch beytragen. Ich faße es, daß es eine critische, poetische und Geistreiche Schrifft seyn müßte, also daß Sie ihre philosophischen Aufsäze, die aber mit Munterkeit verfertiget sind zu diesem Werke gar wol brauchen könnten.

Sie werden die neüen Beyträge zu dem Vergnügen des Verstandes und Wizes gesehen haben. Wer die Verfaßer seyen, so können sie scherzen und zugleich gründlich denken. Die Leipziger haben eine gewiße Rage zu scherzen, und verstehen doch nichts weniger. Der M. Meyer in Halle sollte sie zehen Jahre zu sich in die Schule nehmen; wie wol ich zweifle, daß sie in zehen Jahren scherzen lernten.

Ich werde bald mit dem ersten Theil Opizens aufwarten. Dieses Werk wird den guten Gottschedianern neües Werk an die Kunkel geben. Sie machen sich sehr unnüz über die schweizerischen Fabeln. In den Bemühungen werden solche Puerilitäten vorgebracht, daß man sich schämen muß, sich derselben anzunehmen. Ich nehme die Freyheit hier einen Brief an Hr. v. Hagedorn in Hamburg einzuschließen; denselben bitte auf die Post zu geben, wenn sich keine bequämere Gelegenheit geben sollte.

Ich habe von Hrn. Pastor Langen nichts, als etliche Verse gesehen, welche aber einen artigen Geist gezeiget haben. Ich habe eine desto beßere Opinion von ihm, weil der seel. Pyra viel auf ihm gehalten hat. Hr. Gottsched soll ein aufrührerisches Gedicht an die Königsberger haben ergehen laßen, das wir aber noch nicht gesehen. Die Fr. Gottschedin wird gelobt, daß sie den Magistertitel nicht angenommen, den man ihr in Königsberg zugedacht hatte. Gottsched hat den Hrn. v. Gotter vor seinem Neükirch auf eine Art gelobt, die diesem vornehmen Mann unmöglich gefallen kann. Die Neüberin soll wieder in Dreßden seyn, um ihre und ihrer Schaubühne Ehre wiederherzustellen. Wir werden in Kurzem die Sittenmaler vermehrt und verbeßert unter die Preße legen. Ich hatte eine empfindliche Freüde, daß die beyden Hrn. Könige von Bern zu Franeker und Leiden so schleünig und glüklich untergekommen sind. Ich wünsche Ihnen eben so viel und noch mehr gutes, da ich mit aller Freündschafft und Aufrichtigkeit an ihrem Wolseyn Theil nehme und Verharre

Bodmer.

Überlieferung

H: ZB, Ms Bodmer 20.9–11. Nur als Abschrift von der Hand Sulzers erhalten. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Zehnder-Stadlin 1875, S. 385–386.

Datierung

Entstanden im Dezember 1744, da ein eingeschlossenes Schreiben an Friedrich von Hagedorn auf den 6. Dezember 1744 datiert ist.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief an Samuel Gotthold Lange. – Brief an Friedrich von Hagedorn mit Stücken der Freymüthigen Nachrichten.

Eigenhändige Korrekturen

Geistreiche
Geistvollereiche
bequämere Gelegenheit geben
bequämere Gelegenheit findet geben
in Dreßden seyn, um ihre
in Dreßden seyn, und|m| ihre
Aufrichtigkeit an ihrem Wolseyn
Aufrichtigkeit und an ihrem Wolseyn

Stellenkommentar

Briefen an Waser
Sulzers Briefe an seinen Freund Johann Heinrich Waser, der 1746 Diakon in Winterthur wurde, sind nicht erhalten geblieben. Allerdings sind in der ZB 55 Briefe Wasers aus dem Zeitraum 1747 bis 1769 an Bodmer überliefert (ZB, Ms Bodmer 6.3), die häufig Sulzer zum Thema haben. Der 1713 in Veltheim bei Winterthur geborene Waser war bei Bodmer am Carolinum ausgebildet und 1733 ordiniert worden. Waser, der zeitlebens zum Kreis um Bodmer gehörte, machte sich vor allem als Vermittler und Übersetzer englischer Literatur einen Namen. Er übersetzte u. a. Jonathan Swift und Samuel Butler. Waser war eng mit Martin Künzli befreundet, einem Vertrauten und langjährigen Briefpartner Sulzers. Vgl. zu Waser: Vetter Johann Heinrich Waser 1898.
Hrn Breitinger
Johann Jakob Breitinger, 1701 geboren, studierte 1715 bis 1720 Theologie und Philologie am Zürcher Carolinum. Mit seinem drei Jahre älteren Mitstreiter Bodmer gründete er 1718 die »Gesellschaft der Maler« und gab die Moralische Wochenschrift Die Discourse der Mahlern heraus. In der Philologie und Literaturkritik zeichnete er sich durch wenige, aber wirkungsvolle Werke aus. Dauerhaften Einfluss erlangte Breitinger durch seine Lehrtätigkeit am Carolinum, ab 1731 als Professor für Hebräisch, ab 1740 für Logik und Rhetorik sowie ab 1745 für Griechisch. Im Juli 1745 wurde er zum Chorherrn am Grossmünster gewählt. In späteren Jahren setzte sich Breitinger vermehrt für die pädagogischen Reformen des Zürcher Schulsystems ein. Zu Breitingers Leben vgl. H. Bodmer, Johann Jakob Breitinger, 1897. – Bender Bodmer und Breitinger 1980. Neben Bodmer war Breitinger in den Jahren 1736–1739 Sulzers Lehrer und blieb darüber hinaus mit ihm im Kontakt. Vgl. Sulzers Briefe an Breitinger aus den Jahren 1745–1752 (ZB, Ms Bodmer 22.43).
Pyra
Immanuel Jakob Pyra war am 14. Juli 1744 verstorben. Pyra gehörte mit dem Laublinger Pastor Samuel Gotthold Lange zum Ersten Hallischen Dichterkreis. Er war als Lyriker und Literaturkritiker in Erscheinung getreten. Pyra und Lange standen dabei für einen neuen geselligen Ton in der Lyrik, adaptierten reimlose, antike Formen in ihrer Dichtung und öffneten diese in Anlehnung an Bodmer für poetische Imaginationen, Einbildungskraft und psychologische Wirksamkeit. Mit Bodmers Schriften und Dichtungstheorie hatte sich Pyra intensiv beschäftigt und war kurz vor seinem Tod noch in einen Briefwechsel mit ihm getreten (vgl. GhH, Hs. 317. – Abgedr. in: Körte (Hrsg.) Briefe der Schweizer 1804, S. 1–5). Pyras Konzept einer heiligen Poesie fand in den Werken Klopstocks und Wielands Fortsetzung. Vgl. Dohm Pyra und Lange 1995. – Zelle Beitrag von Pyra zur Dichtungstheorie der Frühaufklärung 1995. – Jacob Heilige Poesie 1997. – Zelle Pyra 2003.
Weltbürger
Pyras Wochenschrift Der Weltbürger erschien 1741–42.
Gedanken von der unsichtbaren Gesellschafft
Titel einer Wochenschrift Pyras, die 1741 in Halle an der Saale erschien.
Pindarische Ode
In der Ode Das Wort des Höchsten widmete sich Pyra dem Bibelwerk Licht und Recht von Joachim Lange, dem Vater seines Freundes Samuel Gotthold Lange.
Hoffnung, daß Hr. Gleim
Von der Begabung und den Arbeiten Johann Wilhelm Ludwig Gleims, den Sulzer bald nach seiner Ankunft in Magdeburg zu seinen Freunden zählte, wusste Bodmer vermutlich aus den nicht überlieferten Briefen Sulzers an Waser. Gleim machte 1744/45 mit dem Versuch in Scherzhaften Liedern Furore. Vgl. auch Bodmers Brief an Gleim vom 11. Juli 1745, in dem er sich wünscht, dass beide gemeinsam »der ächten Poesie und beredsamkeit aufhelfen«. (GhH, Hs. 306). Der 1719 in Ermsleben geborene Gleim, der nach seinem Studium in Halle, Stationen in Potsdam und als Sekretär des Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau, 1747 Domsekretär des Domstifts in Halberstadt wurde, ist als Briefschreiber, anakreontischer Dichter, Mäzen und Sammler in die Literaturgeschichte eingegangen. Der Kontakt mit Sulzer nahm seit den 1750er Jahren allerdings ab. Auch deshalb, weil Sulzer bei Gleim und seinen vielen Nachahmern die Grenze zwischen anakreontischem Scherzen und lächerlich anmutendem, unangenehmem und unbeherrschbarem Gefühlsüberschwang überschritten sah. Eindringlich warnte er den Freund in einem Schreiben vom 3. Oktober 1753 davor, »die Poesie bloß zum Scherz [zu] brauchen«. (GhH, Hs. A 4129). Dennoch blieben Gleim und Sulzer in Verbindung, statteten sich gegenseitig Besuche ab und realisierten mit der Herausgabe von Anna Louisa Karschs Auserlesenen Gedichten 1764 ein gemeinsames Buchprojekt. Vgl. dazu: Pott Sulzer und Gleim 2018. – Kittelmann Sulzer zwischen Scherz und Vernunft 2019. – Bei Siegismund Benedictus Naumann handelt es sich um einen Studienfreund Gleims. Naumann, über den nur wenig bekannt ist, war ebenfalls dichterisch tätig.
einen Brief an Hr. P. Langen
Der Brief Bodmers an Samuel Gotthold Lange ist offenbar nicht erhalten. Langes Antwortschreiben war auf den 12. Januar 1745 in Laublingen datiert. Darin hieß es u. a.: »Ich habe bei durchlesung dero geehrten Schreibens eine sonderbare Mischung der Regungen empfunden. Wie ich empfinde, so offt ein ansehnliches Stück aus der Erbschafft meines sel. Vaters mir zufallet. Ihre freundschaft sehe ich als ein Erbstück an, daß mir mein Pyra hinterlassen, vielleicht, weil ich ihn mit Ihren schönen Schrifften bekannt machte.« (ZB, Ms Bodmer 4.2).
Meyer in Halle
Georg Friedrich Meier, der 1718 in Ammendorf bei Halle geborene Schüler Alexander Gottlieb Baumgartens, hatte nach der Berufung seines Lehrers 1740 an die Universität in Frankfurt an der Oder dessen Vorlesungen in Halle übernommen. 1746 wurde Meier außerordentlicher Professor an der Friedrichs-Universität in Halle. Er war erklärter Gegner der Poetik Gottscheds. Vgl. dazu: Kertscher Meier im geistig-kulturellen Leben der Stadt Halle 2015. Ab 1746 stand Meier im Briefwechsel mit Bodmer (ZB, Ms Bodmer 4.15).
ersten Theil Opizens
Bodmer war seit seiner Jugend ein begeisterter Leser und Verehrer von Martin Opitz (vgl. Bodmer und Bodmer Bodmers Leben und Werke 1900, S. 5). 1745 gab er gemeinsam mit Breitinger Martin Opitzens von Boberfelds Gedichte. Von J.J.B. und J.J.B. besorget. Erster Theil heraus.
einen Brief an Hr. v. Hagedorn
Bodmer an Friedrich von Hagedorn, Zürich, 6. Dezember 1744 (SUH, NFH: 25–43). Vgl. Hagedorn an Bodmer, Hamburg, 18. Januar 1745: »Ewr: Hochedelgeb: mir höchstangenehmes Schreiben vom 6.ten Christmon. habe ich, vor acht Tagen, in einem Briefe des Herrn Sulzers vom 4.ten dieses wohl erhalten.« (Hagedorn Briefe 1997, Bd. 1, S. 142). Hagedorn, Wegbereiter und einer der Hauptvertreter des literarischen Rokokos, galt in seiner Epoche als einer der bedeutsamsten und verehrtesten Dichter. 1708 in Hamburg geboren, publizierte er bereits in den 1720er Jahren poetische Beiträge in Hamburger Moralischen Wochenschriften. In Abkehr von barocken Großformen etablierte Hagedorn das moralische Lehrgedicht, die Ode, das Lied und das Epigramm als dichterische Formen. Hagedorn hielt sich zwei Jahre in England auf und pflegte zeitlebens eine enge Verbindung dorthin. Er vermittelte Bodmer, mit dem er seit Anfang der 1740er Jahre in brieflichem Kontakt stand, die Werke englischer Autoren. Im Literaturstreit zwischen den Leipzigern und den Schweizern hielt sich Hagedorn zurück und versuchte Neutralität zu wahren.
Gedicht an die Königsberger
Johann Christoph Gottsched, Hauptgegner Bodmers im Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich, hielt sich während einer Reise im Sommer 1744 längere Zeit in Königsberg auf. Hier verfasste er die Elegie An die ehrwürdigen Häupter und Väter der hochberühmten Universität zu Königsberg, die in Danzig verboten und schließlich von Gottsched auf eigene Kosten gedruckt wurde. Siehe J. C. Gottsched, Briefwechsel, 2016, Bd. 10, S. XVIII.
Gotter vor seinem Neükirch
Siehe die Widmung und gereimte Vorrede an Gustav Adolf von Gotter in: J. C. Gottsched, Neukirchs auserlesene Gedichte, 1744, unpag. In der Vorrede sind auch Seitenhiebe gegen die Schweizer (»ein neu Geschlecht verführter Sänger«, deren »Busen« der »Alpen steter Schnee erkältet«) enthalten.
ihrer Schaubühne Ehre
Die von Friederike Caroline Neuber gegründete und zunächst in Leipzig angesiedelte Neuber'sche Komödiantengesellschaft wurde wegen finanzieller Schwierigkeiten 1743 aufgelöst und 1744 neu gegründet. In denselben Jahren erschienen Schmähschriften gegen die Neuberin, die einen Neustart in Dresden unternahm, wo sie 1748 Lessings erstes Stück Der junge Gelehrte aufführte. Die Neuberin stand während ihrer Zeit in Leipzig mit Gottsched und seiner Frau Luise Adelgunde im regen Austausch und führte auch einige Stücke Gottscheds auf. Allerdings überwarfen sich Neuber und Gottsched Ende der 1730er Jahre. Vgl. allgemein zu Friederike Caroline Neuber: Rudin (Hrsg.) Vernunft und Sinnlichkeit 1999 sowie zu ihrer Beziehung zum Ehepaar Gottsched: Sharpe Reform of the German Theatre 1995.
beyden Hrn. Könige von Bern
Die Brüder Samuel und Gottlieb Ludwig König waren im Jahr 1744 (gemeinsam mit Samuel Henzi) wegen eines regierungskritischen Memorials für fünf Jahre aus Bern verbannt worden. Samuel König wurde Professor für Philosophie (später auch für Mathematik) in Franeker. Sein Bruder kam in Leiden unter. Seit 1741 führte Samuel König eine Korrespondenz mit Bodmer, von der 32 Briefe aus den Jahren 1741–1753 überliefert sind (ZB, Ms Bodmer 3.13). König übersandte Bodmer mehrfach Texte von Gottsched und dessen Umfeld, u. a. die »Belustigungen, samt der Dunciade; sehr forchtend diese zwey so wiederwärtige stüke werden einander im gleichen paquet aufreiben« (König an Bodmer, Bern, 8. Oktober 1741, ZB, Ms Bodmer 3.13). König trat in seinen Briefen als starker Kritiker der Leipziger auf.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann