Brief vom 12. Oktober 1748, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 12. Oktober 1748

Mein Herr und werthester Freünd.

Ich habe zwahr die Hoffnung von der Meße ein Schreiben von Ihnen zu empfangen. Allein ich warte doch mit meiner Antwort darauf nicht, oder vielmehr, Ich schreibe Ihnen, ehe ich auf ihr Schreiben antworte, damit ich alsdenn noch einmal zu schreiben habe. Ich sollte mich zwahr jezo scheühen an Sie zu schreiben, seit dem ich in so viel unwizigen Geschäfften steke, daß ich kaum weis, ob ich ohne der Ariadne Faden werde herauskommen können. Wenn es durch würkliche Meriten geschiehet, daß viel junge Leüte meine Unterweisung verlangen, so ist es ein beschwerliches Ding um solche Meriten. Ich wollte ihr lieber weniger haben. Ich habe in der That fast keine Zeit mehr übrig zum studiren. Denn die wenige, die ich habe wende ich dazu an, mich zu fühlen und so wol meines eigenen Herzens Bewegungen, als die Eindrüke der äußerlichen Gegenstände zu empfinden. Erwarten Sie also, geneigter Freünd keinen wizigen oder mit seltenen Nachrichten angefüllten Brief von mir. Ich schreibe nur um ein wenig mit Ihnen zu sprechen, und Sie meiner unveränderlichen Ergebenheit und Hochachtung zu versichern. Es muß wol Hrn. Gleim gehen, wie mir; denn ich kann ihn nicht dazu bringen, daß er Ihnen schreibt. Er antwortet mir immer, daß es ihm an Wiz fehle. Sie machen sich in der That fürchterlich, wenn sich auch ein Gleim nicht mehr getraut an Sie zu schreiben. Ich schreibe indeßen doch, weil ich hoffe, daß Sie mein Schreiben nicht als ein Kunstrichter, sondern als ein Freünd lesen.

Seit dem wir Hrn. Gleim verlohren, haben wir hier wieder einen andern Dichter an seine Stelle bekommen, den Hrn. Sucro den sie kennen. Ich habe ihn vermahnet an Sie zu schreiben und zwey Gedichte, die er neülich hat druken laßen zu überschiken, welche hiebey folgen. Seinen Geist kennen Sie, und so viel ich von seinem moralischen Charakter habe merken können, ist er wenigstens so schön, als jener. Er giebt hier ein moralisches Wochenblatt unter dem Titel des Druiden heraus, das ziemlichen Beyfall findet. Wenn noch drey von seiner Art und Fleiß hier wären, so könnten sie viel gutes stiften.

Ich schreibe an Hrn. Schultheß um ihm das Amt des Mädchenfr. anzutragen, weil mir unmöglich fällt daßelbe zu behaupten. Ich wollte ihm gerne alle meine Schrifften dazu einhändigen laßen. Wenn ers nicht übernehmen will, so werde ich mir von Ihnen die Erlaubniß aus bitten ihren Pygmalion mit einigen andern moralischen Erzähl. neü druken zu laßen. Der Cimon, den ich, wie mein eigen Kind liebe könnte vielleicht auch dabey seinen Plaz finden.

Sie würden mir einen besondern Gefallen thun, wenn Sie mir könnten durch die erste Gelegenheit, spatstens auf das N. J. p. Adresse an Hrn. Kitt in Leipzig ein sauberes ungebundenes Exempl. von Hrn. Meyers Fabeln auf Schreibpapier schiken, weil ich dem jungen Prinzen von Preüßen ein Present davon machen möchte. Ich habe Hrn. Ramler, den sie vielleicht wenigstens dem Name nach kennen, beredt, daß er mir ein halb duzend auserlesene moralische Fabeln aus des Ovidii Verwandlungen in deütsche Verse übersezt. Z. E. Phaeton, Narcissus u. d. gl. die ich mit einigen Anmerkungen begleiten und für den Gebrauch bemeldten Prinzen druken laßen will. Wenn Hrn. Ramler die Geduld dabey nicht vergeht so wird er gewiß was gutes machen.

Hr. Lange schreibt nun sehr fleißig an dem Geselligen, wird aber immer ungeselliger, indem er mir fast gar nicht mehr schreibt. Hr. Prof. Meyer ist jezo fast sein einziger Freünd und sein alles in Allem.

Wäre es nicht möglich, daß man den Misodeme complet haben könnte? Ich nehme die Freyheit Ihnen meine Übersezung von Wests Anmerkungen zu schiken, weil ich diesmal sonst nichts habe, damit ich Ihnen aufwarten könnte. Hat man bey Ihnen das Buch les Moeurs genannt schon. Es hat mir in vielen Jahren kein Buch so gut gefallen. Es ist aber hier etwas rar, weil es in Paris verbrennt und daher rar und theüer geworden. Ich wünschte, daß es in jedermans Händen seyn möchte und daß insonderheit die großen der Erde es mit Bedacht lesen möchten.

Ich habe die Ehre zu verharren

M H und w Fr.
ergebenster Dr. Sulzer.

den 12 Oct. 48

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Zwei Gedichte und ein Brief Johann Georg Sucros. – Sulzers Übersetzung von Gilbert Wests Anmerkungen und Betrachtungen über die Geschichte der Auferstehung Jesu Christi.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am oberen Rand auf der Umschlagseite: »Ich lasse briefe druken, in welchen ich mir die briefe meiner Freunde, die keine Zeit, oder keine Lust haben mir zu schreiben, aus ihren Charactern vorstelle, und dann beantworte. Hrn. Blaufuß die Herausgabe des Opizen zu überlassen« (Gemeint ist Jacob Wilhelm Blaufus, der Breitinger aus Jena am 17. Oktober 1748 diesbezüglich geschrieben hatte. Vgl. ZB, Ms Bodmer 21.9). »Ich sende ihm im Christm. 1748 durch Hr. Schultheß zum Dach v. Efen Misantrope, proben der schw. Poesien, Meiers Fabeln, Muralt livre sixieme fables pour les enfans, Breitinger diss. de consensu multidud. zween Kinderlieb kleiner Beweiß Versuch d auferzieh. widerlegt. 2 duncias. 2 Erzehl. versch. Verf. Gemißhandelter Opiz zwei Artikel gegen Mosheim

Eigenhändige Korrekturen

in Paris
in Paris

Stellenkommentar

Hrn. Sucro den sie kennen
Johann Georg Sucro, Bruder von Johann Josias und Christoph Joseph Sucro. Johann Georg Sucro, von dem zwei Briefe an Bodmer überliefert sind (deshalb vermutlich Sulzers Hinweis »den sie kennen«), publizierte 1748 bei Haude und Spener das Lehrgedicht Der moralische Nutzen der Poesie. Das in Sulzers Brief eingeschlossene, die übersandten Gedichte begleitende Schreiben Sucros vom 11. Oktober 1748 ist erhalten geblieben. Sucro beruft sich darin u. a. auf den »Profeßor Sulzer«, der ihm »das Versprechen gegeben« habe, dass Bodmer die Übersendung der Gedichte »nicht zuwider seyn werde« (ZB, Ms Bodmer 5.16). Ein Lehrgedicht Die vergnügte Einsamkeit seines Bruders Johann Josias erschien ebenfalls im selben Jahr bei Haude und Spener. Alle drei Brüder gaben gemeinsam den Druiden heraus bzw. arbeiteten daran mit.
schreibe an Hrn. Schultheß
Schreiben Sulzers an Johann Georg Schulthess nicht ermittelt.
jungen Prinzen von Preüßen
Der Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm II.
er mir fast gar nicht mehr schreibt
Lange sah die Sache genau umgekehrt und schrieb am 25. Februar 1749 aus Laublingen an Gleim: »Es schreibt niemand, auch Sultzer nicht, der eintzige Meyer ist allein mein Trost.« (GhH, Hs. A 2567).
meine Übersezung von Wests Anmerkungen zu schiken
Sulzers Übersetzung von Gilbert Wests 1747 publizierter Schrift Anmerkungen und Betrachtungen über die Geschichte der Auferstehung Jesu Christi, und derselben Zeugnisse, 1748.
les Moeurs
F.-V. Toussaint, Les Moeurs, 1748 (Die Sitten, 1749).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann