Brief vom 6. August 1747, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 6. August 1747

Mein Herr und werthester Freünd.

Dero sehr werthes Schreiben vom 15 März, habe ich post p. varios casus et tot discrimina, die es auf der Reise aus der Schweiz hieher vermuthlich überstanden endlich vorgestern wol erhalten. Ein Buchhändler aus Leipzig hat es an Mr. Kitt geschikt. Wie es jener bekommen ist mir unbekannt. Den Brief an den Hrn. v. Hagedorn habe ich gestern gleich weg geschikt und Morgen werde ich auch den an Hrn. Pr. Meyer bestellen. Sie können also leicht erachten, daß ich die neüen Erzählungen und die Siege Friedrichs schon lange vorher gehabt habe. Den Pygmalion darff ich nicht rühmen um nicht noch einmal einen Verweis von ihnen zu bekommen, aber tadeln kann ich ihn um so viel weniger, weil ich überall, ohne Ruhm, meine Denkungs Art, nur auf eine weit schönere Art, als ich sie vorgetragen hätte, darin antreffe. Ich habe für den Mädchen Freünd auch ein paar Erzählungen gemacht, die ich Ihnen mit erster Gelegenheit schiken werde. Die einte ist außerordentlich und frech. Denn ich stelle darin einen verdienstvollen jungen Athenienser vor, der sich in eine sehr schöne, aber verdienstlose Person verheyrathet hat. Das schlechte Gemüth der Schönen quält ihn um so mehr, je stärker er verliebt ist. Er hält seine Liebe für eine Straffe der Götter, nachdem er vergebens alle Mittel angewendet, das Herz der geliebten zu verbeßern. Darauf frägt er das oraculum und auf deßen Ausspruch verbannt er sich selbst für fünff Jahre, er kann aber auch nach seiner Fr. Todt seine Liebe so wenig bestreiten, als die Ißmene. Bis die 5 Jahr vollendet sind. Da trifft er einen andern vornehmen verbannten an, der eine sehr liebenswürdige Tochter bey sich hat. Er heyrathet sie, und das Volk hebt um ihn wieder zu haben, auch den Bann seines Schwieger Vaters auf und sie kommen beyde wieder nach Athen. Das ist der Inhalt. Ich habe bereits zwanzig Blätter zu dieser Wochenschrifft fertig liegen. Und wenn mir Hr. Gleim seine Hülffe nicht versagt, so werde ich auf das N. Jahr den Anfang mit der Herausgebung machen. Dieser Freünd ist noch immer ohne Bedienung. Er zeigt sich aber insonderheit jezo, als ein treüer Freünd. Die Prof. Mathes. am Joachims Thal, auf die ich schon zwey mal Hoffnung gehabt ist nun zum dritten mal ledig. Ich spornte Hr. Saken an für mich zu arbeiten: da dieser schon alle Hoffnung verlohren hatte und würklich die Wahlstatt verlaßen, hat ihn Hr. Gleim so aufgemuntert, daß er aufs neüe zu streiten anfängt. Ich habe aber wenig Hoffnung. Daß einzige Mittel, daß mir übrig bleibt, ist mich immediate bey dem König zu melden. Hr. Sak preparirt jezo die Sachen. Aber wie gesagt, ich habe sehr wenig Hoffnung. Indeßen ist jezo fest beschloßen, daß ich auf das N. Jahr, mich nach Berlin begebe, weil jederman einsiehet, daß ich in zehen Jahren in Magdeb. mein Glük nicht um ein Haar befördere. Hr. Bachm. kann mich hierin keines Undanks beschuldigen, denn es ist ihm und seinen Freünden bekannt, daß ich gerne seine Kinder völlig erziehen würde, wenn ich vorhersähe, daß sie wenigstens von meiner Gegenwart einen soliden Nuzen hätten. Aber ich gewinne hierinn wenig, weil ihnen ins ohr gesagt, der Vater niederreißt, was ich aufbaue. Ich habe es ihm mehr, als ein mal gesagt, und das wunderbarste ist, daß er es einsiehet, oder wenigstens thut, als wenn er es ein sehe, ohne zu helffen. Ich habe ihm deßwegen schon vor einem Jahr mit aller Aufrichtigkeit gesagt, daß ein jeder andrer an meiner Stelle den Kindern eben soviel oder mehr nuzen würde, als ich selbst, und ich kann es demonstriren. Was kann ich nun mehr thun? Ich werde den Glarnerischen Prediger ihm vorschlagen, aber ich verspreche mir nichts, und wenn er mich um Rath fragen sollte, so würde ich ihm es nicht Rathen. Denn ungeachtet Hr. Bachm. ein starkes Salar. giebt und es überdies an Freygebigkeiten von allerley art nicht mangeln läßt, so ist so vieles zu überwinden, daß ich durch meinen Rath niemand hieher bringen will.

Es wäre schlecht wenn ihr Cimon keinen Pflege Vater finden sollte. Jezo arbeitet Hr. Nauman daran. Ich werde aber Hr. Gleim so lange treiben, bis er es selbst thut. Es ist wahr, sie haben ihre Absicht darin erreicht und den Cimon so lange in die Schule gehen laßen, bis er gesittet wird. Mich dünkt aber, daß der Leser an dem Affekt der Ißmene Theil nimmt und etwas unruhig wird, wenn er nicht wißen soll, wie es ihr gegangen. Von dem Cimon braucht man nichts weitres zu wißen. Er ist das geworden, was er hat werden sollen.

Wenn Hr. Langens Muthmaßung wahr ist, so ist wol zu begreiffen, wie es kömmt, daß Gottsched die fr. Briefe gelobt. Er meint Hr. Gleim habe ihm ein Exempl. geschikt. Er hat aber doch auch in dem Lob seine Denkungs Art verrathen. Warum sezt er dem natürlichen Voiture den gezwungenen Païs an die Seite? Das heißt auch ins Gelach hinein geschrieben.

Der Übersezer der Siege Friedrichs ist ein vornehmer Edelman, Hr. Langens Nachbar. Ich hatte ihm gerathen, den Bogen umdruken zu laßen und mich angeboten, die Umkosten dazu herzugeben. Denn ich vermuthete einen solchen Criticum, wie der neüe Übersezer. Doch dünkt mich, er hätte eben nicht Ursache gehabt, so laut zu schreyen, weil auch seine Übersezung einen noch ganz unvollkommenen Franzosen verrathet.

Ich würde dem, der sagt daß sich der Leibnizianer in den angeführten Zeilen aus der gerechtfertigten Klage entronnen sey antworten, daß solche Abweichungen von den strengen Gesezen der Vernunfft eben das Kenzeichen des starken affekts und wol erlaubt seyen. Was thut man nicht in der großen Freüde? Sind nicht die Tänze, Spiele, und andre Ergezlichk. die auch nicht die strengste Vernunfft aushalten könnten denn zumal die gewöhnlichsten Sachen? Man muß dieses dem starken Affekt erlauben. Wer hier bey der Ausruffung des Friedens sich geweigert hatte einen Rausch zu trinken, aus dem Grund, weil es die strenge Geseze der Vernunfft verböten, der wäre auch von den strengsten ausgelacht worden.

Ich bin mit Ihnen über die Verschiedenheit des Charakters der griechischen und römischen Poeten vollkommen einerley Meinung. Die Römer sind, wo sie aus ihrem Kopf arbeiten weiter von der Natur entfernt, und die gottlosen Schmeycheleyen des Horazius und Virgilius habe ich niemals ohne Ärgerniß gelesen. Ich würde also allen Poeten immer vorpredigen, was ich Hr. Langen ofte gesagt. Eine vollkommene übereinstimmung der sentimens theils unter sich, theils mit der Natur ist der einzige Grund des schönen. Horaz würde vieles weggelaßen haben, wenn er seiner Regel, scribendi recte, sapere p. allemal gefolget wäre.

Sie dürffen nicht sorgen, daß die Beschreibung der Appenzeller Reise Hr. Langen ärgere. Dieses sind eben bisgen für ihn. Wenn er sie selbst gemacht hätte, so würde sie noch loser seyn. Wir haben uns ungemein daran ergezt und der philosophische Hr. Meyer war nicht der lezte mit lachen.

Ich weiß von guter Hand, daß der Hr. v. Hagedorn sich geärgert hat, daß das Buch ohne Titel in den freymüthigen Nachrichten getadelt worden, nachdem man es vorher gelobt hat. Sollte er nicht die Vorrede und einige Anmerkungen dazu gemacht haben? Sie haben guten Grund to repine at your being slippd in his poems. Ich habe schon ofte dieselbe Anmerkung gemacht. Er ist auch hierinn der einzige in seiner Art, und thut zuwenig, wo Hr. Lange vielleicht zu viel thut. Die Gesinnungen der Freündschafft machen einem Poeten ja eben so viel Ehre als sein Geist, wenn sie sich von den gemeinen unterscheiden. Aber vielleicht denkt er [→] honores rari & tenues gloriosi, effusi obsoleti.

Ich zweifle nicht, Hr. Waser werde ihnen den Anfang meiner Philosophischen Unterredungen geschikt haben. In was vor Betrübniß denken sie wol, daß ich gewesen sey, da man mir von Berlin aus seinen Todt berichtet! Ich habe jezo noch keine Nachricht, daß er noch lebe. Aber eben der Mangel derselben seit einigen Wochen, ist genugsam mir alle Furcht zu benehmen.

Ich verstehe nicht was sie sagen wollen, wenn sie schreiben Hr. Spalding würde beßer gethan haben, wenn er in dem Moralist die Verse in Versen übersezt hätte. Denn mein ganzes englisches original ist in Prosa, obgleich poetischer, als tausend Gedichte die sich reimen.

Ich verharre mit vollkom. Hochachtung und Freündsch.

Dero ergebenster Diener JGSulzer.

Magd. den 6 August 47.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Anschrift

Herrn Joh: Jac: Bodmer Mitglied des großen Raths und Profeßoren p in Zürich.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der Umschlagseite: »Erlenbach [Breitinger] hat alle Wahrscheinlichkeit für sich, daß er die besten Absichten habe, Trillern zu erbauen, nachdem er sich mit ihm so vile Mühe gegeben. Niemand nimmt dergleichen verdrießliche Mühe über sich zum bloßen Spaße oder aus Rache. Ein böser Mensch hätte ihn mit einem Votu, oder einem Epigramme oder einer schmähung abgewiesen. Triller hat böse Absichten verrathen, die er mit criticastris ⟨objeis⟩ &c. um sich wirft./ – Musäus/ Pyras Nachlaß./ – friso übersetzen laßen./ – Allegorie vom Winter bey einer Hochzeit./ – der Fröhliche./ Supplementa zur Reise nach Gaß. regoloto hat Theocrit. Mosch. Bion/ – Theorie de Sentimens Hrn prof. Meier empfehlen«. – Siegelausriss. – Siegelreste.

Eigenhändige Korrekturen

Cimon braucht man
Cimon läßt braucht man
ins Gelach hinein
in⌈sden Tag hin Gelach hinein
und wol
und im aff wol

Stellenkommentar

post p. varios casus et tot discrimina
Verg. Aen. I, 204. Übers.: »Durch mancherlei Unglück, durch so viel schwere Gefahren«. (Vergil, Aeneis, 2015, Buch 1, S. 55).
Buchhändler aus Leipzig
Nicht ermittelt, eventuell Johann Michael Teubner.
ein paar Erzählungen
Bis auf die Erzählung Damon oder die platonische Liebe sind diese Entwürfe Sulzers nicht erhalten.
einte ist außerordentlich und frech
Gemeint ist Sulzers Damon oder die platonische Liebe. Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1746-12-01.html.
Prof. Mathes. am Joachims Thal
Sulzer bewarb sich im August 1747 erneut um die Stelle eines Mathematikprofessors am Joachimsthalschen Gymnasium und erhielt sie schließlich. Vgl. sein Bewerbungsschreiben an den damaligen Rektor Johann Philipp Heinius, Berlin, 27. August 1747 (BLHA, Rep 32, Joachimsth. Gymn. Nr. 95). Darin heißt es u. a., dass der »Ruhm« Friedrichs II. Sulzer »bewogen« habe, sein »Vaterland, die Schweiz zu verlaßen um unter einem so großen Könige mein geringes Talent anzulegen und des Glüks eines Preußischen Unterthanen theilhafftig zu werden«. Vgl. dazu auch Hirzel Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen 1779, Bd. 1, S. 95–97.
den Glarnerischen Prediger
Zu Joachim Heer aus Glarus vgl. Brief letter-sb-1747-01-29.html und dazugehörigen Kommentar.
Hr. Nauman
Zu Siegismund Benedictus Naumann vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1744-00-00.html.
natürlichen Voiture den gezwungenen Païs
Vgl. J. C. Gottsched, Freundschaftliche Briefe (Rez.). In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste, 1746, Bd. 2, St. 6, S. 571: »Diese Briefe sind ganz artig und angenehm zu lesen. Man hat nicht Ursache den Franzosen einen Voiture und Pais zu beneiden, nachdem wir solche deutsche Originalbriefe erhalten haben.« Vincent Voiture und René Le Pays waren französische Dichter des 17. Jahrhunderts.
ein vornehmer Edelman
Nicht ermittelt. In Laublingen residierte das Adelsgeschlecht von Krosigk. Es ist allerdings nicht unwahrscheinlich, dass Lange selbst der Übersetzer war.
scribendi recte, sapere
Hor. ars, 309: »scribendi recte sapere est et principium et fons«. Übers.: »Für das richtige Schreiben ist Weisheit Ausgangspunkt und Quelle«. (Horaz, Von der Dichtkunst, 2018, S. 633).
Buch ohne Titel
Die Brüder Johann Elias und Johann Adolf Schlegel gaben 1746 das sogenannte Buch ohne Titel heraus, auf dessen erstem Blatt nur das Motto »Quantum est in rebus inane! Persius« steht. Eugen Wolff hat Ende des 19. Jahrhunderts die Brüder Schlegel als Urheber identifiziert (Wolff Das Buch ohne Titel 1891). Vgl. Freymüthige Nachrichten, 1746, St. 38, S. 223. Ein (satirisches) Antwortschreiben wurde abgedr. unter dem Namen »W. Erlenbach« (Pseudonym Breitingers) im St. 39, S. 298–300.
honores rari
Nep., Miltiades, 6, 2. Verkürzt wiedergegebenes Zitat aus der Lebensbeschreibung des Feldherrn Miltiades von dem römischen Geschichtsschreiber Cornelius Nepos. Das Originalzitat lautet: »ut enim populi Romani honores quondam fuerunt rari et tenues ob eamque causam gloriosi, nunc autem effusi atque obsoleti«. Übers.: »Denn wie früher die Ehrungen beim römischen Volk selten und eher mager, deshalb aber gerade ruhmvoll waren, so gibt es sie heutzutage dagegen übertrieben, oft schon fast alltäglich.« (Cornelius Nepos, Berühmte Männer, 2018, S. 23).
seinen Todt berichtet
Woher Sulzer die Falschmeldung von Wasers Tod erhalten hatte, konnte nicht ermittelt werden. Waser starb erst 1777.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann