Brief vor dem 6. Juli 1776, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: vor dem 6. Juli 1776

Leben Sie, mein liebster; verwahrt unser tapfere Schuldheiß sie vor höflichen freunden, die Ihnen den hof machen, um sich selbst Ehre zu machen; erfrischet er Sie mit einer ländlichen Mahlzeit von Kohl; plaudern sie mit ihm die langen tage, die kalten regnichten stunden hinweg, welche Ihnen die Spaziergänge an der tosenden Töß, auf hügeln und in hainen und gärten, vorenthalten, sizen sie auf einem Sopha oder Kanape?

Ist Reich bei ihnen, ihr freund von Alters her? Eine seltenheit daß ein buchhändler ein freund ist! Der Verleger der guten theorie, die so sehr zur unzeit unter die deutsche welt gefallen ist; da der Blizstral des Genius, dem Wahrheitsgefühl in der Brust pochet, sie wie Herder das goldene Kalb um welches man mit Weib und Kind herumtanzete, zu Staub gemalmet hat. (deutscher Merkur Märzmonat:)

Reich, auch mein Verleger des Julius Cäsars, an welchem ich einen mord begangen habe, den Iseli mir so wenig verzeihet, als Er dem Ravaillac und Clement verzeiht. (Ephemeriden drittes stük) Denn Iseli glaubt an den unüberwindlichen sebel der Despoten, und erinnert sich nicht daß Cäsar zuerst Pompeius, Cato und andere senatoren gemordet hat; und senatoren waren Könige; nicht daß er populum late regem erwürgt hat. Er sieht nur daß der despotismus bey den Christen in unsern tagen geheiliget ist; geheiligter als unter den Cäsaren, wo noch Widerstreben der unterdrükten partey war.

Ich sollte den braven Reich nicht verführt haben, ein rebellisches Drama einer Nation geben zu wollen, die in den schauspielen Baladins und Leutenante der Reicharmee fodert; von denen Weisse ihr mehr als genug anwirbt. – Er hatte doch besser als ich gewust daß man in den logen und dem parterre nicht zusammen kömmt, die Rechte der Menschheit gemeinschaftlich und darum lebhafter zu empfinden.

Ich danke es meiner täuschenden Einbildungskraft daß ich Sie, mein theurer, mir gegenwärtiger vorstelle, da sie nur zwo meilen von mir entfernt sind; wiewol diese zwo meilen sie mir so würklich als funfzig von der seite nehmen. Aber ich stärke mich mit der Hoffnung daß sie selbst von gesundheit gestärkt bald wider vor meinem Angesicht erscheinen.

Ich umarme sie, und unsern Bidermann Schuldheß, nicht Schuldheiß Bidermann. –

Ihr
Bodmer

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

Herrn Professor Sulzer gegenwärtig bey Hhn Schuldheiß Sulzer in Winterthur.

Vermerke und Zusätze

Siegelreste.

Eigenhändige Korrekturen

vorenthalten, sizen sie auf einem
vorenthalten, ⌈sizen sie⌉ auf einem
und erinnert sich nicht daß
und erinnert sich ⌈nicht⌉ daß
von gesundheit gestärkt bald wider
von gesundheit gestärkt ⌈bald⌉ wider

Stellenkommentar

Leben Sie, mein liebster
Der Brief ist an Sulzer in Wülflingen gerichtet, wo dieser sich vor seiner Rückreise nach Berlin bei Johannes Sulzer aufhielt.
da der Blizstral des Genius
Zitat aus der Rezension Johann Caspar Häfelins von Herders Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts in: Der Teutsche Merkur, 1771, Bd. 1, S. 203–228, hier S. 205.
den Iseli mir so wenig verzeihet
Isaak Iselin gab zwischen 1776 und 1778 die Ephemeriden der Menschheit heraus. François Ravaillac war der Mörder des französischen Königs Heinrichs IV. und Jacques Clément hatte dessen Vorgänger Heinrich III. erstochen.
populum late regem
Verg. Aen. I, 21. Übers.: »weithin regierend [...] ein Volk«. (Vergil, Aeneis, 2015, Buch 1, S. 43).
Baladins und Leutenante
Zu Bodmers Bild des zeitgenössischen Publikums siehe auch Brief letter-bs-1768-01-23.html.
nicht Schuldheiß Bidermann
Elias Bidermann, der 1771 von Johannes Sulzer das Amt des Winterthurer Schultheißen übernommen hatte. Vgl. Brief letter-bs-1771-07-29.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann