Brief vom 8. Januar 1763, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 8. Januar 1763

Zürch den 8ten Jan. 63.

Ich halte es, mein theuerster, meo quodam sensu, für providential, daß meine Reservation, von meinen kleinen besorgnißen Sie nicht nach der weise der artigen Welt bewirthen zu können entstanden, Ihnen die gelegenheit gegeben hat, mir eine der stärksten und angenehmsten Proben ihrer freundschaftlichen offenherzigkeit, und ihres geneigten gütigen Willens zu ertheilen. Sie wollen unter Philemons dach kommen und mit der kleinen veralterten Wirthschaft einer christlichen Baucis, sie selbst kein Mercurius sondern ein Raphael oder diesem leutseligen, menschenfreundlichen ErzEngel ähnlich, zufrieden seyn.

Es ist auch vorsehung daß ich Gott sey dank mit meiner liebsten bisher für unser Alter, einen gesunden und ganz erträglichen Winter gehabt haben, der mit den beschwerden des vorigen Winters noch glüklich und gnädig verschont geblieben.

Kommen sie denn, mein liebster herr, mit ihrer ganzen freundschaft mit ihrem vortrefflichen herzen, mit ihrer herzerquikenden munterkeit zu ihrem gerührten, wahren und redlichen freund; bezeichnen Sie die lezte epoque seines Lebens mit ihrer Erscheinung, mit bliken und worten, mit sprüchen und Einfällen, deren Andenken etwas süßes auf die bittersten stunden, die mir bevorstehn möchten, streuen wird.

Ich unterließ einige Zeit her Ihnen zu schreiben weil ich die Hhn schuldheiß und stadtschreiber für ihre Representanten ansah, und hernach die beyden jungen wakern Menschen als Botschafter betrachtete, die von uns zu Ihnen geschikt wären.

Ein unbekannter hat eine lobrede auf den verstorbenen Burgerm. in die Censur gegeben, von der Hr. Can. Breitinger viel gutes sagt. Aber Hr. Antistes urtheilt indignam esse tanto viro. Er will sie erst gestatten zu drucken, wenn der verfaßer seinen nahmen declinirt. Einer von unsern studenten hat auf den verlust dises Hrn. eine Elegie in Hexametern geschrieben, die passablament mauvais sind. Hr. profess. Wernet hat seine Observationen über Rousseaux vicaire savoiard ihm selbst zugeschikt, in manuscripto.

Haben Sie die güte uns etliche tage 2–3. vor ihrer Ankunft davon nachricht zu geben. Und izt laßen sie mich mir selbst durch die blosse Erwartung dieser liebsten stunden tausend poetische phantomen erschafen.

Ich umarme sie und unsere andern freunde an d. Eulach.

Bodmer.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Stellenkommentar

meo quodam sensu
Lat. Redewendung. Eigentlich »meo quidem sensu«. Übers.: »meiner Meinung nach«.
die Hhn schuldheiß und stadtschreiber
Johannes Sulzer und Wolfgang Dietrich Sulzer.
lobrede auf den verstorbenen Burgerm.
Anonym, Lob- und Trauer-Rede auf den Tode Herren, Herren Johann Caspar Eschers, 1762.
indignam esse tanto viro
Übers.: »dass sie eines so großen Mannes unwürdig sei«.
eine Elegie in Hexametern
Vermutlich der anonyme Druck Trauer über das selige Absterben des hochgeschäzten Herrn, Herrn Joh. Caspar Eschers, 1763.
Observationen über Rousseaux vicaire savoiard
Siehe dazu Brief letter-bs-1762-11-27.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann