Brief vom 5. Mai 1759, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 5. Mai 1759

Diesen Augenblik empfange ich diese nachricht. Das Kloster Capel ward 1118. gestiftet. Es sind gemählde da, von Heiligen in hohen Farben nach der zeichnung die im 12ten 13ten sæculo bekannt war. Man findet keine jahrzahl, noch nahmen, daraus man das alter sicher wissen könnte. Ich höre im Kloster Santgallen seyn noch ältere stücke gewesen. In der that ist dieses das älteste Kloster in hiesigen gegenden. Izt aber ist das alte Dohm abgebrochen worden, und ich weis nicht ob man die glasmalereyen salvirt hat.

Wir haben in unserm land, zu Buchs, durch welches die via romana nach Baden und Windisch gieng, wider ein pavimentum tesellatum gefunden. Unser Theologus antiquarius ist dahin geschikt worden zu schmeken, ob was seltenes da verborgen liege.

In der Orellischen sache lassen sie Hn Krausen nicht fortfahren, bis er von diesen leute neue VerhaltungsBefehle bekommt. Ich habe ihnen gesagt, daß sie directe ihre Entschliessung an ihn, oder an sie für ihn schiken sollen. Es scheint sie haben von den verstorbenen ganz und gar nichts authentisches in händen. Wenn mehr Kosten also schon gesehen izt darüber gienge, so könnte ich dafür nicht gut stehen, daß sie gern bezahlt würden. Also lassen sie Hrn. Krause à drittura ohne uns mit den Orellischen correspondiren.

Ein junger mensch hier, Hr. Zunftmeister Wasers Enkel, der gute anfänge im Zeichnen und Mahlen hat, sucht in Berlin einen Tisch, den wollte er gern bey einem kunstmahler finden, bey welchem er zugleich in diser Kunst mehr sehen und sich weiter üben könnte. Wissen sie jemand dergleichen so haben sie die güte mir dess. addresse zu schiken, und wenn es seyn kann, was ein solcher für das kostgeld fodere.

Einer nahmens Grasset hat in Lausanne etliche pamphlets publicirt, in welchen Voltaire sehr heftig, sehr lebhaft, aber voll Ernstes angegriffen wird. Er schrieb darüber an Hallern, der izt Amtman zu Roche über das salzwerk ist, und suchte seinen obrigkeitlichen schutz. Aber [→]Hr. Haller gab ihm eine überaus feine, viel sagende, spizige, doch höfliche antwort, in welcher Voltaire Wahrheiten finden kann, die ihm noch wenig gesagt worden. Man macht couplets auf seinen Candide die verdient sind. In Bern und Geneve wird Voltaire nichts weniger als geliebt.

Was meinen sie, wie würde man mit härtigkeiten von der art der folgenden ankommen:

– weil ihnen die theure Freiheit geraubt ist
Ihren Gewinn, ihr silber, ihr Gold nach polen zu schiken,
Grafschaften einem Minister zu kaufen und jeglichen morgen
Ihm ein silbergestiktes Kleid um die Schultern zu werfen.
Ehmals war dieses ihr Recht und dies zu verlieren thut wehe.

+ + +

[→] Laß denn die pharaonen dem Assur großmüthig vergeben,
Jeden treulosen Krieg und alle blutigen siege,
Zwanzig eroberte länder und völker, mit offenen armen
Laß ihn versöhnt in die arme des liebreichen Amasis laufen,
Amasis fühle sein Herz von zärtlicher liebe zerschmelzen
Wenn so an seinem Rocke Nabuchodonosors Enckel
Hangen; er sende sein volk bey Myriaden zu Assur.

Ich habe in meinem Ulysses Samgar eingeführt, einen palestiner der in der nachbarschaft mit den juden sehr reine Begriffe von Gott gelernet hat. Er ist Ulyssen das, was Pylades dem Orestes war. Nachdem Ulysses izt aus gottseliger begierde dem Willen der Götter zu folgen einen jüngling geopfert, den er für seinen längst verlohrnen sohn erkennt, und ein mädchen geheurathet, welches er für seine längst todtgeglaubte tochter entdeket, nachdem er sich in der Verzweifelung die Augen ausgebrannt hat, so lasse ich ihn seine Klagen die er über die Götter und das schiksal hat, gegen Samgar ausschütten. Dieser beantwortet sie mit grosser Vernunft und philosophischen Einsichten, mehr als man von einem Heiden erwartete, doch sehr faßlich, und einem der mit der Religion der Israeliten bekannt ist, ganz anständig.

Man hat mir eingeworfen durch diese ernsthafte und trostesvolle Einführung werde die passion, die auf dem höchsten gipfel gestiegen war, unterbrochen und so gar besänftiget. Man hätte, sagt man, die Zuhörer, ohne Erkaltung, in der hize des Affektes, heimschiken sollen. Aber ich habe die wege der vorsehung rechtfertigen wollen, denn wiewol es eine heidnische piece ist, und das unwiderstehliche schiksal, dem Jupiter selbst unterworfen ist, hier die Religion ist, so rejaillirt doch die Beschuldigung auf die vorsehung des wahren Gottes, und dise wollte ich nicht unvertheidiget lassen. Meine lezte Absicht ist nicht die bloße Entzükung auf den äussersten Affekt. Überdies habe ich die stimme eines Engels eingeführt, der saget: Wenn Ulysses seine standhaftigkeit in der sache der göttlichen wahrheit erweise, so sollte die thür zur glückseligk. ihm nicht zugeschlossen seyn. Gott wollte ihm in einem andern stern eine neue laufbahn eröffnen. Hr. W. hat diesen Engel für sehr ⟨verwerflich⟩ gehalten. Er meint weil wir keine solche Exempel von erscheinenden Engeln unter uns hätten, so sey keine wahrscheinlichkeit da.

Im Oedipus gebe ich dem Tiresias philosophische begriffe von Gott, die man dem pöbel verheelet. Die priester dort haben eine scientiam arcanam. Alle diese trauerspiele sind in poetischer prosa geschrieben.

Es war der Spitalmeister Meyer, der ehmals etwas von der Glasmalerey gelesen, es ist aber nichts für sie, er ist ein platter Mechanicus und kann weder denken und schreiben.

Ihre freunde von hier und die von Winterthur verlassen sich darauf, daß Sie uns schleunige Nachrichten schiken, wenn etwas grosses in den öfentlichen unternehmungen geschiehet. Breitinger, Steinbrüchel, Hirzel, Geßner, Wolf, ehren und lieben sie, wie sie sollen. Ich bin ihr eigen usque ad aras.

Den 5. May 1759

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Eigenhändige Korrekturen

ihm eine überaus feine
ihm einen überaus feinen

Stellenkommentar

Kloster Capel
Das ehemalige Zisterzienserkloster Kappel am Albis bei Zürich. Die frühgotische, zu Beginn des 14. Jahrhunderts vollendete Klosterkirche war mit Glasmalereien ausgestattet.
ein pavimentum tesellatum
Nach der Entdeckung eines Mosaikfußbodens (pavimentum tessellatum) bei Buchs wurde dort eine gesamte römische Villenanlage, die Villa Rustica, ausgegraben. Hagenbuch verfasste zu diesem Fund eine nur handschriftlich überlieferte Beschreibung der zu Buchs gefundenen Alterthümer, den 7. Mai 1759 (Sinner Verzeichniß aller geschriebenen Werke, welche die Schweizerische Geschichte angehen 1769, S. 2). Zwei von Johann Rudolf Holzhalb gestochene und unter dem Titel Entdeckung einiger Römischer Alterthümer, welche im Majo 1759 in der Herrschaft Regensperg auf einer Anhöhe ob dem Dorf Buchs [...] ist gemachet worden publizierte Blätter zeigen die dort aufgefundenen Objekte.
junger mensch
Hans Kaspar Waser (1737–1782), Enkel des gleichnamigen Zunftmeisters (Leu Lexicon , Suppl.-Bd. 6, S. 300).
etliche pamphlets publicirt, in welchen Voltaire
Der Drucker François Grasset publizierte 1759 den Band Guerre littéraire, in dem er Pamphlete Voltaires ohne dessen Erlaubnis abdruckte.
Haller gab ihm
Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1759-05-19.html.
Laß denn die pharaonen
Verse aus Bodmers 1758 entstandenem Der Held aus Persis, publiziert in: Bodmer, Apollinarien, 1783, S. 327–343, hier S. 335 f.
in meinem Ulysses
Bodmers Ulysses, Telemachs Sohn. Ein Trauerspiel erschien 1760.
lasse ich ihn seine Klagen
Vgl. ebd. den Dialog zwischen Samgar und Ulysses im vierten Auftritt.
Oedipus
Bodmers Oedipus, ein Trauerspiel wurde gemeinsam mit Johanna Gray und Friedrich von Tokenburg 1761 unter dem Titel Drey neue Trauerspiele publiziert.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann