Brief nach dem 12. Juni 1752, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: nach dem 12. Juni 1752

Mein liebster Freund.

Ich hoffe daß Ihre baugeschäfte Ihnen bald das denken wieder vergönnen werden, warum wollte ich sonst einem Mensch schreiben der bey seinem Bauen das denken verlernet hat? Doch ich will Ihnen so leichte sachen schreiben, daß man nur vegetieren muß sie zu verstehen. Der Beifall, den ihr pallast und garten haben giebt mir zu erkennen, daß viel guter geschmak in Berlin ist. Wenn der Noah diesen beifall vermißt so mag er zusehen, ob es nicht an ihm fehle. Oder gehört sich ein andrer Geschmak ein Gedicht zu beurtheilen?

Ich bin Ihnen sehr verpflichtet für die besorgung des Hymne. Die Vorrede dabey ist recht nach meinem wunsche. Welchen Relief hätte es dem Noah gegeben, wenn er in dieser gestalt, in diser netten Kleidung, erschienen wäre! Die zween Verse, die sie substituirt haben, sind sehr gut, aber zu abendländisch. Wegen des polsters von Fett, wollte ich sie gern fragen, ob sie auch fleischliche begriffe bekommen wenn sie Job XV: 26 lesen: Sein angesicht ist mit fett bedeket, und seine schenkel sind mit Schmär überzogen. Wenn ich den Abendglanz hüpfen lasse, so sage ich die sache selbst. Mein philocles giebt mir Zeugniß: J'ai mille fois vû le soleil se coucher sur nos montagnes, où l'on void visiblement la lueur où plûtot l'ombre comme sautiller en se retirant petit à petit. Fürchten Sie sich nur nicht wegen Jacobs anrede an die wolke

Woltest du gegen den karg seyn der selbst so milde gewesen?

Es ist einer von den besten Einfällen in der Rachel. Ich berufe mich auf alle orientalischen poeten. Vermuthlich gefällt er den Abendländern nicht weil die wolken nicht verstehen und nicht wollen. Aber auch unsern Dichtern ist erlaubt den leblosen dingen Verstand und Willen zu geben. Als sie den Noah in seiner ersten rohen gestalt gelesen, erklärten sie sich sehr stark gegen alles prosaische: Wie bald werden sie izo schüchtern da Ihnen etwas zu arabisch klingt!

Es ist kein wunder daß sie viele stellen übergehen müssen, wenn sie Ihrer Geliebten den Noah vorlesen. In einem epischen werke kann nicht alles nach dem besondern geschmake eines jeden guten lesers gleichgut seyn. Die Absicht und die verschiedene gemüthsart der guten leser bringt es so mit, daß einem dises dem andern jenes gefalle. Vor allen theilen, allen Eigenschaften, eines gedichtes, in allen absichten gleich gut zu urtheilen kömmt nur denen zu, die selbst gute und erfahrne Meister sind. Daher halte ich es für ein glük, daß Wieland die Beurtheilung des Noah schreibt. Sie wird dem Neide vil zu denken geben, wiewol sie eben keine lobrede ist. Sie werden Wielands stärke erst entdeken, wenn sie seinen Fryhling und seine Erzæhlungen lesen werden. Sein fryhling vegetirt nicht allein, er empfindet und denket, und er führt uns an der Hand der unschuldigsten Lust bis in die olympischen Auen, und giebt uns den umgang der Himmlischen. Was wird Kleist von dem neuen fryhling sagen? Aber was werden H–n und G–t von den Erzæhlungen sagen? Die Erzæhlungen sind voll tugend, voll weisheit, voller affekten, da sind keine sprünge über die grade der affekten, keine zu genöthigten apostrophen, sentenzen, oder satirischen Einfälle. Die narration ist nicht mit leblosen transitions formel beschweret. –

Ich habe Wielanden vielfältig geprüft. Er ist der tugendhafte K–k, an Wissenschaft und liebe der Wissensch. übertrifft er diesen weit. Er hat nicht bloß Empfindungen auf den lippen; er ist der redlichste mann, und das aufrichtigste herz. Er hat einen Abscheu vor Wein und Tabak – darf ich nun wol die Abentheuer wagen, und ihm erlauben zu mir zu kommen? Er fleht mich um dises Vergnügen, aber Vestigia terrent. Wie unglüklich hat die begebenheit von 1750 mir ein Mißtrauen in die besten apparenzen erwecket!

Als ich Herrn Gell. und Herrn Rabnern den Noah gesandt, trachtete ich sie ganz treuherzig zu machen, damit sie mir ein aufrichtiges urtheil davon meldeten ohne furcht daß ich mich darüber alterieren würde. Aber der erste antwortete: Mein Beifall ist ihnen zu gewiß als daß sie ihn erst erwarten könnten; mehr erlaubt mir die post nicht. – Der andere: Die edle Mühe die sie sich geben, den Aberglauben gegen die Reime zu schwächen und den Hexameter ehrwürdig zu machen, wird gewiß nicht ohne Nuzen seyn. – Man dächte der Noah wäre in unsern tagen gekommen den Hexameter und nicht die Gerechtigk. zu predigen. Hr. H–r schreibt mir: Es sind überaus schöne gemählde im Noah quæ integer laude ungeachtet ich mich weder selbst noch habe entschlissen können Hexameter zu machen noch diese Fremde Versart mir habe können gefallen lassen. Doch ein schönes Frauenzimmer mit einem gezwungenen schuh ist doch schön.

Was soll ich vom Noah, was von disen Hhn denken die nur Hexameter im Noah sehen? Doch Hr. Hall. gehet weiter und tadelt im Noah die Klopstokischen apostel, den Abadona – und er zeiget deutlich genug, daß die Messiade ihm in vornehmen stüken ganz mißfällt: Z. e. die lange rede des Nicodemus, die thräne des vaters, die liebe des Lazarus, der reuige Abadona – Es wäre doch gut, daß ein geschikter Kopf das Recht der Dichtung auf die geisterwelt untersuchete, und bestimmte in was für schranken die Engel und Gott poetisch d. i. sinnlich dürfen aufgeführt werden. Man müste die naturen der verschiedenen arten der biblischen wahrheiten untersuchen und die anzeigen die der poet vollends hinausdenken darf. Hr. Sak od. Hr. Jacobi sollten sich darüber erklären. Ich kann mich nicht enthalten zu gedenken, daß dise arbeit nicht nur ihrer würdig sey, sondern sie fodert. Sie haben sich über schlechtere sachen erkläret, und sie vergessen sich, wenn sie sich nicht an dise arbeit machen. Die Gedanken über Gottscheds gutachten von der geistl. Epopee sind nur zu gut, und widerlegen Einwürfe, die es nicht sehr nöthig haben. Aber sie gehen nicht auf den grund.

Hr. Gleim hat mir noch nicht geantwortet. Er soll bey Haller gewesen seyn, und daselbst mit disem und Duschen ein Gericht über den Noah gehalten haben. An Duschens Gedicht, die Wissenschaften, tauget weder der Grundriß noch die Versart vil. Nur verrathen einzeln Gemählde Phantasie.

Ich habe der Frau Rowe Joseph a poeme gesehen. Es ist vielmehr ein Inbegriff als ein Gedicht, von einem halben duzend Sujets, die arbitrairement verknüpft und mit schönen poetischen worten vorgetragen werden. Wenn sie wenig Neigungen in der Rachel gefunden haben, wie so gar keine würden sie in disem Joseph finden?

Pastor Lange hat mir seinen armen Horaz geschikt, aber ohne Brief. Er hat Dr. Hirzel und Diacon Waser geschrieben, und sich über den verlust seiner schweizerischen Freunde übel beklagt. Waser hat viel mitleiden mit ihm. Ich wünsche Langen alles Gutes, aber seine freundschaft ist nicht kostbar.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Datierung

Nach Sulzers Brief vom 12. Juni 1752 entstanden.

Stellenkommentar

philocles giebt mir Zeugniß
Stelle nicht ermittelt. Übers.: »Ich habe tausendmal gesehen, wie die Sonne über unseren Bergen untergeht, wo man sichtlich den Glanz, oder eher den Schatten hüpfen sieht, wenn er sich allmählich zurückzieht.«
anrede an die wolke
[J. J. Bodmer], Jacob und Rahel, 1752, S. 36.
H–n und G–t
Hagedorn und Gellert. Hagedorn publizierte 1738 den Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen. Gellerts Fabeln und Erzählungen in zwei Bänden erschienen hingegen erst 1748 vollständig und wurden bis 1751 mehrfach neu aufgelegt.
K–k
Klopstock.
Abscheu vor Wein und Tabak
Wieland bezeichnete sich selbst als »Wassertrinker« (an J. H. Schinz, um den 25. Mai 1752) und dass er »gleichfals den Tabac nicht leiden« könnte (an Bodmer, 8. Juni 1752). Vgl. Wieland Briefwechsel 1963, Bd. 1, S. 74, 87.
Gell.
Gellert. Vgl. auch sein Antwortschreiben an Bodmer vom 18. April 1752. (Kommentar zu Brief letter-bs-1752-03-28.html).
Der andere
Rabeners Brief an Bodmer vom 30. April 1752 (ZB, Ms Bodmer 4b.13). Die von Bodmer zitierte Briefstelle findet sich gleich am Anfang.
H–r schreibt mir
Vgl. Albrecht von Haller an Bodmer, Göttingen, 24. Mai 1752 (ZB, Ms Bodmer 2a.3). Abgedr. in: Haller Gedichte 1882, S. 362–364. Hallers Brief enthält darüber hinaus eine Kritik einzelner Merkmale von Klopstocks Messias und eine indirekte Kritik an Bodmer, dass er dessen Stil und Motive übernommen habe. Haller bezog sich in seinem zurückhaltenden Urteil auch auf den jungen Wieland: »Und so viel mehr könnte man sagen, welches aber alles ich, um Talente und Gaben nicht abzuschrecken, immer bey mir behalten habe. Denn die Deutschen können sich noch in die Critik nicht schicken, sie meinen, ein Werk, daran man etwas tadelt, seye ganz getadelt, und man muß unbedingt rühmen, wenn man nicht schaden will.« (ebd. S. 363).
Gedanken über Gottscheds gutachten
Die in der Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge, Bd. 3, 1752, S. 23–55 erschienene und A. F. W. Sack zugeordnete Verteidigungsschrift Gedanken über die Frage: Wie weit Erdichtungen in Epopeen, welche Begebenheiten in der Religion zum Gegenstande haben, zugelassen seyn können war eine Reaktion auf Gottscheds Bescheidenes Gutachten, was von den bisherigen christlichen Epopeen der Deutschen zu halten sey? In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Januar 1752, S. 62–74.
Er soll bey Haller
Vgl. Haller an Johannes Gessner, Göttingen, 4. Juni 1752 (wohl in der Abschrift J. Gessners an Bodmer): »Die 29 nobiscum fuit Gleimius ubi multos de Bodmerio et Clopstockio sermones miscuimus« (Haller Gedichte 1882, S. 360; hier irrtümlich auf den 4. Januar datiert).
der Frau Rowe Joseph a poeme
Vgl. dazu Kommentar zu Brief letter-bs-1751-01-27.html sowie Bodmers Rezension Urtheil von der Frau Rowe Geschichte Josephs, einem Gedichte. In: Freymüthige Nachrichten, 31. Oktober 1753, St. 44, S. 348 f.
seinen armen Horaz
Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1752-04-29.html.
hat Dr. Hirzel und Diacon Waser geschrieben
Nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann