Brief vom 1. Dezember 1749, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 1. Dezember 1749

Izt habe ich Hallers panegyrium auf Werlhof auch gelesen. Wie ungerecht, wie falsch, und niederträchtig! Er ist der Curdo im fünften Critischen Briefe. Ich könnte leichter glauben, daß Werlhof nichts als ein Artzt wäre, als, daß Homer und Virgil nichts als Poeten seyn. Zum wenigsten ist Werlhof kein poet. Er hat sich mit der Poesie am wenigsten versündiget. Aber woher hat Haller daß Homer und Virgil nichts als poeten gewesen seyn? Von Virgil wissen wir doch, Horaz sagt es, daß er ein rechtschaffener freund gewesen, animā quā nulla candidior; und diser Virgil hat dem Augustus und der Livia beym Tode des Marcellus einen Trost in der Aenais mitgetheilet, welchen ihnen die Arzneykunst nicht mitzutheilen gewust hat. Doch Haller hat recht, die Poesie herunterzumachen, die ihn in seinen Versen für den König Georg so augenscheinlich verlassen hat. Welche pedanterey sein handwerk so übertrieben zu loben! Ich könnte bald glauben, Haller hätte die vortreffliche Stüke von Klopstok, Schlegel, Giseken, nicht gelesen. Er hat sie gewiß nicht gelesen; er hätte sich mit lesen solcher dinge, die nichts als poetische sind, an der mitleidigen Arzneykunst vergriffen. Ich muß ihm nichtsdestoweniger verzeihen; er nimmt sich ziemlich stark Klopstoks an, der doch nichts als ein Poet ist. Aber ich fürchte schier daß Klopstok bald bedenken haben werde, von Hallern dergl. dienste anzunehmen, der von der Göttlichen Poesie so verkleinerlich schreibt.

Capitän Henzis Wittwe hat sich von Bern wegbegeben, wiewol man sie nicht verjagt hat. Ich habe aber noch nicht können innenwerden, wo sie sich gesetzet hat. Sobald ich es weiß, will ich ihr wegen der Helvetie Delivrée und andrer sachen schreiben. Sie hat etliche noch unerzogene söhne. Bern hat ein Manifest publicirt, seine hinrichtungen zu rechtfertigen: Ich fürchte daß eben das Manifest mit seinem gantzen Inhalt recht die widrigste Würkung thun werde. Ich habe das Manifest hier beigeleget, damit Hr. professor es lesen könne. Ich bitte es aber hernach mit den andern sachen Hn Hagedorn zu schiken, dem ich es versprochen habe. Für sie sende ich die 3 stüke der Messagerie du Pinde. Mehr sind nicht herausgekommen. Die Num. 44. 45 der frey. Nachr. sende doppelt, damit sie ein paar davon Klopstoks freunden in Braunschweig zufertigen.

Ich bin froh, daß sie eine peitsche für Krause und Simoneti flechten wollen; nicht darum daß ihr urteil vom Pygmalion, dem halben Original und der halben Übersetzung mich stark verdriesse, sondern weil ich schon als ein gelehrter Krieger verrufen bin, und man bald glauben möchte, ich wäre sonst nichts als ein Criticus. Hr. Peyer von Schafhausen hat doch klüglich gethan daß er auf sein Titelblatt gesetzet, er wäre des grossen Rathes; man hätte sonst denken mögen, er wäre nichts als ein Poet.

Das Capitel von Past. Lange wollte ich lieber mit Stillschweigen übergehen. Er wird mich bald anklagen, er habe es mit mir verderbt, weil er durch die neue Auflage seiner Lieder des seinigen sich wieder bemächtiget hätte. Ich kann es nicht über das hertz bringen, ihm freundschaftlich zu schreiben, weil ich keinen Ehrgeiz habe, sein freund zu heissen: Ich mag auch nicht mit ihm streiten, weil es nur den Schein bekäme, als ob ich mich stark vor seiner feder fürchtete. Ich will also stillschweigen, und wenn er mich etliche mal angestochen haben wird, nach Jahr und Tage antworten, ich hätte meinen ehmals allzu weitleuftigen Briefwechsel eingeschränket.

Sie müssen m. langen brief für nichts wichtigers aufnehmen, als für ein langes soliloquium, das ich einen diser langen Winterabende bey der Kertze mit mir selbst geführt, und die unvorsichtigkeit habe, Ihnen beyden mitzutheilen. Dieses verdient nur in der betrachtung verzeihung, weil nichts als freundschaft mich vermocht hat, so schlecht auf meiner hut zu stehen. Und mit Liebe verbleibe ich

Ihr ergebenster Dr.
J. J. B–r

Initio decembris 1749

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Datierung

Von Sulzer auf den 1. Dezember 1749 datiert.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Manifest Ansehend die im Julio 1749. in der Statt Bern Entdeckte Conspiration. Bern 1749. – Drei Exemplare von S. Henzi, Messagerie du Pinde. – Zwei Exemplare der Freymüthigen Nachrichten, 1749, St. 44, 45.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »1 Dec. 49«.

Stellenkommentar

Curdo im fünften Critischen Briefe
Vgl. den fünften Brief der Neuen Critischen Briefe, 1749, S. 38–44: »Der kalte, der ekle Curdo sieht meinen Geschmak an der Poesie noch immer mit einem Auge voller Verachtung an.«
woher hat Haller
A. v. Haller, Vorrede. In: P. G. Werlhof, Gedichte, 1749, S. 5: »Herr Werlhof ist nicht bloß ein Dichter. So groß dieser Name scheint, wann man einen Virgil, einen Homer nennet, die nichts als Dichter gewesen sind.«
animā quā nulla candidior
Hor. s. I, 5: »animae, quales neque candidiores«. Übers.: »die redlichsten Seelen, welche die Erde je hervorbrachte«. (Horaz, Buch I der Satiren, 2018, S. 81).
einen Trost
Verg. Aen. VI, 855–886.
Versen für den König Georg
A. v. Hallers Gedichte Cantate die in der Allerhöchsten Gegenwart Sr. Königlichen Majestät Georg des Andern [...] In der Göttingischen Universitäts-Kirche mit Music aufgeführet worden, den 1. August 1748 und Serenate auf denselben Anlass, publiziert in Versuch schweizerischer Gedichte, 1748, S. 214–222.
nimmt sich ziemlich stark Klopstoks an
Haller stand seit 1748 im Briefwechsel mit Klopstock, den er auch in Briefen an Werlhof und andere protegierte. Vgl. Betteridge Klopstock's Correspondence with Albrecht von Haller 1963.
Manifest publicirt
Das als Beilage mitgesandte Manifest Ansehend die im Julio 1749. in der Statt Bern Entdeckte Conspiration. Bern 1749.
ihr urteil vom Pygmalion
Auf Krauses und Simonettis Besprechung des Pygmalion ging Bodmer auch in den Freymüthigen Nachrichten, St. 53, 31. Dezember 1749, S. 421 ein: »man muß ein Duns, ein Krause oder ein Simonetti sein, wenn man den deutschen Pygmalion für eine vortreffliche Uebersetzung des Französischen ansehen soll.«
Peyer von Schafhausen
Bodmer spielt hier auf die Publikation Deutsche Gedichte. Von Johann Conrad Peyers des grossen Rathes an, die 1748 im Verlag von Johann Adam Zieglers seel. Wittib in Schaffhausen erschien. Peyer, der neben Gedichten im Stil Hallers und Brockes' auch politische Satiren veröffentlichte, war seit 1741 Mitglied des Großen Rates von Schaffhausen.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann