Brief vom 23. Dezember 1777, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 23. Dezember 1777

Glüklich sind Sie, mein theürester, daß Sie in ihrem Hohen Alter die Munterkeit des Geistes noch haben, die Ihnen sogar den Umgang mit lebendigen Menschen entbehrlich macht. Mich haben so lange Anhaltende Gebrechen weit herunter gebracht, und besonders meinen Geist mit einer Trägheit gefeßelt, die mir sehr zur Last wird. Da mir die Natur nur eine stumpfe Einbildungskrafft gegeben; so hatte ich ehedem Lust an Beschäftigungen, die einige Anstrengung des Denkens erfoderten: und izt da ich zum Denken zu träge worden, bleibet mir fast nichts übrig, den Geist zu beschäfftigen, als ganz sinnliche Gegenstände, dergleichen der Winter, der mich in meinem Zimmer eigeschloßen hält, nich darbietet. Erlebe ich den Frühling, so werden meine Blumen und meine Bäume, meine Spaziergänge und Außsichten mich wieder ermuntern. Nach dem gegenwärtigen Anschein werde ich dieses erleben; denn ich habe mich von Fieberhaften und andern drohenden Schwachheiten wieder ziemlich erholet. Nur ein höchst Beschwerliches Husten quälet mich Tag und Nacht, und mattet mich so ab, daß ich, wie ein Schatten, herum schleiche. Es soll mir doch, wie ich hoffe Vergnügen machen, das mir bestimte Pak zu bekommen, das mir von ihrem Umgang mit Göttern, Heroen und Heiligen, nähere Nachricht geben wird.

Ich hätte Reichen zu gefallen, der einen Nachdruk meiner Theorie niederzuschlagen, eine neüe Auflage davon macht, dies Werk durchsehen, verbeßern und ergänzen sollen. Aber das war eben so viel von mir gefodert, als daß ich Berge versezen sollte. Einige Veränderungen und Zusäze, die ich vor ein paar Jahren beyläuffig gemacht habe, sind alle Veränderungen, die diese neüe Ausgabe von der ersten unterscheiden werden.

Es sollte mich doch freüen, wenn der Mann, der die Berloken hat machen können, meinen Geschlechts Namen trüge: aber ich kann es nicht glauben. Ich vermuthe, daß mehrere daran Antheil haben, und daß der Prof. Hottinger einer davon ist. Selbst [→]Zimmerman hat sich, exceptis excipiendis, gar sehr über diese Erscheinung gefreüt. Auch er hat sich vorgesezt öffentlich gegen die Krafftnarren aufzutreten, und besonders den Kauffman seine Ruthe fühlen zulaßen. Ich glaube ebenfalls, daß der Herderismus und das Geniewesen, nicht lange mehr Aufsehen machen werde. Seltsam ist es anzusehen, durch was für mancherley und einander entgegen gesezte Gährungen die Deütschen endlich zu einem etwas gesunden Urtheil und Geschmak kommen werden.

Därff ich Ihnen gestehen, daß mir meines Nachbar Engels Philosophie ganz unbekannt ist? Ich habe schon den Fehler, oder die Schwachheit des Hohen Alters an mir, (nur Sie sind davon frey) dem Neüen etwas abgeneigt zu seyn. Zu meiner Zeit wußte man noch nichts von der schwazhaften Philosophie für die Welt. Kurzweilig aber ist es für mich dergleichen Kindereyen zu sehen, wie das, was Sie mir von Lavater und dem jungen Cramer sagen. Lieber will ich eine solche Scene sehen, als das Encomium Klopstoks lesen. Was wird denn der Mensch sagen können, das uns eine Höhere Meinung von Klopstok beybringe, als die Meßiade uns schon gegeben hat? Und wer wird es ausstehen können, auch den Verfaßer der Gelehrten Republik neben den Dichter des Meßias aufgestellt zu sehen?

Wie kommt es, daß Sie mir nichts von Gozzis in der Schweiz übersezten Schauspielen sagen? Dieser Mann hat große dramatische Talente und sein Übersezer muß doch ein ganzer Mann seyn. Nennen Sie mir denselben. Ich glaube fast, daß er in Bern lebt. Wenigstens erinnere ich mich, daß mir vor zwey Jahren jemand in Bern viel von Gozzi gesprochen hat.

Daß ihre popularen Bewegungen sich so sanfft gesezt haben, ist zwahr in gewißer Absicht gut; aber es würde, wie mich dünkt, noch beßer gewesen seyn, wenn sie ohne brausende Gährung sich damit geendiget hätten, daß ein unbestimter Artikel ihres Staatsrechts, bestimmt worden wäre. So aber bleibt es immer à recommencer, wenn eine neüe Gelegenheit dazu kommt. Was geschehen ist, beweißt mehr, daß es zahme und ruhige Bürger, als daß es große politische Köpfe unter ihnen giebt.

Mein Bildnis von Graffen gemalt, das Sie bekommen werden, stellt mich in meiner ehemaligen; nicht in der gegenwärtigen Gestallt vor. Wenn man als ein Gast an einen vornehmen Ort kommt, so muß man nicht sein Alltagskleid anhaben. Sie werden mich da erbliken, wie ich kurz vor meiner fatalen Krankheit, leibhafftig aussah. Und doch ist es hier einer sehr hohen Person, die mich unlängst mit einem Besuch begnadigte eingefallen, ein Bild von meiner gegenwärtigen jämmerlichen Figur zu verlangen. Vermuthlich, weil ein abgezehrter Körper etwas pittoreskeres hat, als ein gesunder. Ich weiß aber nicht, ob Graff sich dazu verstehen wird.

Wir haben izt, nur für kurze Zeit, einen aus Hamburg nach Wien beruffenen deütschen Schauspieler, Brochman, hier, der die Berliner durch die Vorstellung des Hamlets ganz bezaubert. Leüte, die den Garrick in dieser Role gesehen haben, schäzen den Deütschen dem Engeländer wenigstens gleich. Bald werden in unsern pamphlets Triumphlieder darüber erschallen. Denn die Deütschen haben sich aus ihrer ehemaligen Bescheidenheit empor geschwungen und geben sich nun selbst das Lob, das die Ausländer ihnen so lange versagt haben. Wenn wir unsern Rang über alle Ausländer werden behauptet haben, dann werden wir ohne Zweifel, nach dem Beyspiel der Franzosen, uns auch über die Alten sezen.

Entschuldigen Sie mein Stillschweigen bey Hrn. Escher, der mir einen angenehmen Brieff geschrieben hat. Das Vergnügen mit Ihnen zuschwazen, hat mich zu weit geführet und meine wenige Kräffte sind durch diesen einzigen Brief erschöpft. Bitten Sie ihn izt meinen herzlichen Gruß und vorläuffige Danksagung für die mir Höchst angenehmen Büsten, statt eines Briefes gelten zu laßen. Ich umarme Sie p.

JGSulzer

den 23 Dec. 77.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

An Herrn Profeßor Bodmer in Zürich frco Nrnberg.

Stellenkommentar

Zimmermann [...] gefreüt
Vgl. Zimmermann an Sulzer, 14. Dezember 1777: »Aber zwey Tage nachher kam mir ein herrliches Buch: Brelocken ans allerley der klein und Großmänner in die Hand. Ich verschlang es, und fand das Böse das man von Lavatern sagt, und einige schiefe Anmerkungen über die Physiognomik ausgenommen, dieses Buch voll unübertrefflicher Sachen.« (LBH, Ms XLII,1933,A,I,I,93, Bl. 186).
öffentlich gegen die Krafftnarren
Gemeint ist vor allem Christoph Kaufmann, über den sich Zimmermann auch in der Korrespondenz mit Lavater austauschte und darüber Sulzer informierte: »Ein paar Maulschellen gebe ich, coute qui coute, dem Herr Kaufmann. [...] Ich muß, ich muß auf die Kraftnarren los gehen, und würde es anizt schon nicht lassen, wenn ich nicht unglaublig viel in meinem Berufe zu schreiben hätte. [...] Freundschaft habe ich für Lavater in Ewigkeit. Aber ich mag doch nicht für einen Narren gehalten seyn, da ich kein Narr bin, und dieses durch einen einzigen gedrukten Bogen erweisen kann. Ich muß ich muß, den Kraftnarren eins auf die Nase geben, die nicht nur bloß etwa mich mishandeln, sondern hundert Männer mishandeln die hundertmal besser sind als ich: auch solche die tausendmal besser sind. Zum Ex.: Sie (Ebd. Bl. 187).
Engels Philosophie
Zu Johann Jakob Engels 25 Stücke umfassenden und von 1775 bis 1777 erschienenen Monatsschrift Der Philosoph für die Welt vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1777-02-20.html.
von Gozzis in der Schweiz
Die Übersetzung von Carlo Gozzis Theatralischen Werken erschien 1777–1779 in fünf Teilen in Bern. Der Übersetzer, nach dem sich Sulzer hier erkundigt, war der schwäbische Schriftsteller Friedrich August Clemens Werthes. Über das von Sulzer erwähnte, vermeintliche Zusammentreffen in Bern mit Werthes, der auch an Wielands Teutschem Merkur mitarbeitete, konnte nichts ermittelt werden.
einer sehr hohen Person
Wer das Porträt Sulzers forderte, ist nicht bekannt. Vielleicht handelte es sich um Amalia von Preußen oder Ulrike von Schweden. Im dritten Band von Lavaters Physiognomischen Fragmenten ist der von Krankheit gezeichnete Sulzer abgebildet (1777, S. 343). Zudem befindet sich in den Graphischen Sammlungen der ZB ein Kupferstich, der den kranken und dem Tode nahen Sulzer zeigen soll. Zum Maler oder Stecher sowie zum Entstehungszeitpunkt ist allerdings nichts vermerkt.
Schauspieler, Brochman
Zu dem vom Berliner Publikum euphorisch gefeierten Gastspiel des Wiener Schauspielers Johann Franz Brockmann, der zum ersten Mal in Berlin den Hamlet spielte, vgl. auch Sulzers Brief an Zimmermann vom 21. Dezember 1777: »Wir haben izt, aber nur auf kurze Zeit einen Schauspieler aus Hamburg hier, der nach Wien beruffen ist (Brochman, wo ich nicht irre) der Berlin als Hamlet halb rasend macht. Täglich müßen eben so viel Leüte an dem Schauspiel Haus abgewiesen werden, als herein kommen können. Und alle diese Herrlichkeiten muß ich mit dem Rüken ansehen.« (LBH, Ms XLII-1933-A-I-93, Bl. 189).
Garrick in dieser Role
Der britische Schauspieler David Garrick brillierte vor allem in Stücken Shakespeares, den er maßgeblich für die Bühne wieder entdeckte. Von Garrick in der Rolle Hamlets existieren auch zeitgenössische Kupferstiche nach einem Gemälde von James McArdell.
über die Alten sezen
Anspielung auf die Querelle des Anciens et des Modernes.
Escher, der mir einen angenehmen Brieff
Schreiben Salomon Eschers nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann