Brief vom 9. Dezember 1777, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 9. Dezember 1777

Hrn. profess. Sulzer.

Der Winter, mein liebster Sulzer, ist so wenig mein wolthäter, als der ihre. Er hat für mich die reize verloren, die er in den liedern der Minnesinger hat. In ihrem brief ist doch licht und wärme des sommers; wollte Gott daß eben so viel in ihren adern wäre! Mich hat ihre hand mehr erwärmet als der ganze december. Wir sollten in einem hausgefängniß eingeschlossen seyn, dann sollte keinen von uns die lange weile drücken; [→]si quidem etiam si nihil subest collocutio ipsa habet aliquam suavitatem. Mein gefängniß ist doch das Haus philemons; nicht nur Jupiter und Merkur kommen zu mir, sondern alle götter der Ilias und der Odyssee. Meine Frau ist die würkliche baucis und besorgt im 82sten jahre meine Wirthschaft während ich mit den Göttern schwaze. Leben sie mein liebster, den pak zu empfangen, der zu ihnen auf dem Wege ist. Sie werden sehen was ich mit den Göttern und den Heroen schwaze. Ich habe auch wieder einen besuch von Abraham gehabt, dem Vater der glaubigen. Ich halte ihn für den wahrern Abraham als den Lavater vom himmel herabgebetet hat. Sie haben doch sein Drama gesehn?

Der gute Mann sagt, daß man ihn in den Berlocken durch die Spießruthen gejagt habe. Wenn er in dem Büchelgen nach der Wahrheit geschildert sey, so gehöre er in den Spital oder das Zuchthaus. Die Empfindler seufzen daß so verdorbene Christen sind die Gott in dem Menschen Christus nicht fühlen. Denn die selbst, die Hottingers sendschreiben zum Feuer verdamten, freuen sich der Berloken. Ich fürchte die Ehrfurcht für Lavaters Heiligkeit und unbezweifelten Ruhm sey so tief gefallen, daß männer von schwacher seele die Augen brauchen und sehn dürfen was vor der stirn ligt.

Aber, mein Lieber, haben Sie keine Winke, wer die Berloken gesündiget habe? Ein Gerücht gehet daß er ein Sulzer sey. Ich wünsche daß er Einer sey, der izt zum ersten mal in die autor carriere tritt. Dieser ungenannte, dann, Büsche in Hamburg und Sturz in Oldenburg, des vortrefflichen Bernsdorf Encomist sind mir bürge daß der Herderismus, das geniewesen, der Göthische Modeton im Fallen sind. Aber ihr professor Engel, der Philosoph für die Welt, ist mir zu viel philosoph für die Welt. Er scheint sehr geneigt nach Spizfündigkeit zu jagen.

Kramer des vormahligen dänischen Hofpredigers sohn, schreibt Klopstoks panegyricum. Er ist von Lavaters Clique; aber er ist wild geworden, daß Lavater in der physiognomik Göthen tausend parasangen über Klopstok erhoben hat. Er drohet Lavatern wenn er diese Verkleinerung Klopstoks nicht öfentlich zurüknehme, so seze er in das Eloge Klopstoks einen paragraphe der den heiligen mann niederwerfen werde. Man sagt Lavater werde in einem gedrukten brief alle seine verehrer bey allem was heilig ist beschwören, daß sie ihn gegen die Breloken nicht mit dem geringsten Worte beschüzen.

Der Brief an einen professor Sulzer ist durch ein Versehen des postamtes nach Berlin gekommen. Der Sulzer, dem er zukommen sollte, hat die professorqualität nur von einer muthwilligen Coterie erhalten.

Unsere popularen bewegungen sind pulveris exigui iactu niedergesessen. Sie haben mir nichts als schwäche intra et extra zu bemerken gegeben, politische, civile, persönliche; gesezgeber, die ihre Häuser nicht regieren können. Bald schlug man mit dem schwerdt in das Feuer; dann bükte man sich, man küssete, man liebkosete. Man blies warm und kalt.

Ich will mein bestes thun noch so lange zu leben bis ihr portrait sie zu mir bringt. Und sie müssen sich noch bey den Leuten, die von brod leben gedulden, bis ich im buste vor ihnen erscheine. Ich hoffe doch daß diser nicht besser sey, als ich selbst bin. Und ich bin gewiß gut da Sulzer mich geliebt hat, und liebet, und nicht aufhören will zu lieben. Ich umarme sie mit der liebe, wie ich das Wahre und gute und Schöne liebe.

Bodmer

Zürch den 9. dec. 1777.

Ich schmeichle mir daß die Recensenten indem sie meinen Sigowin tadeln, den alten guten Homer tadeln werden.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Stellenkommentar

in den liedern der Minnesinger
So etwa in den Liedern von Heinrich von Veldeke oder von dem Grafen von Toggenburg, die Bodmer und Breitinger in der Sammlung von Minnesingern, 1758–1759, ediert hatten.
si quidem etiam
Vgl. Cic. Att. XII, 10, 2: »quae habet, etiam si nihil subest, collocutione ipsa suavitatem.« Übers.: »Auch wenn nichts dahintersteckt, bringt die Unterhaltung an sich Freude.« (Cicero, Atticus-Briefe, 1980/2013, S. 749).
daß er ein Sulzer sey
Zu Johann Rudolf (Jeannot) Sulzer vgl. Denzler Die Sulzer von Winterthur 1933, Bd. 1, S. 125–137.
Büsche in Hamburg
Der Pädagoge und Publizist Johann Georg Büsch führte mit Bodmer auch einen Briefwechsel. Vgl. dazu Kommentar zu Brief letter-bs-1778-09-15.html.
Sturz in Oldenburg
Helfrich Peter Sturz, der Privatsekretär des Grafen von Bernstorff war und 1777 Erinnerungen aus dem Leben des Grafen Johann Hartwig Ernst von Bernstorf veröffentlicht hatte.
Kramer
C. F. Cramer, Klopstock. Fragmente aus Briefen von Tellow an Elisa, 1777.
Brief an einen professor Sulzer
Der Brief war an Johann Rudolf Sulzer, den Verfasser der Brelocken, adressiert. Vgl. Brief letter-bs-1778-02-18.html.
pulveris exigui iactu
Verg. georg. IV, 87. Übers.: »ein wenig Staub dämmt all die Erregung«. (Vergil, Georgica, 2016, S. 223).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann