Brief vom 11. Dezember 1775, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Nizza
Datum: 11. Dezember 1775

Izt befinde ich mich, mein theürester, in dem kleinen Elysio, welches die Statt Nizza durch fast unersteigliche Berge von den umliegenden Ländern absondert. Es ist ein kleines aber höchst reizendes Thal, und in demselben wohne ich in einem der größten Gärten, in dem ein immerwährender Frühling herrscht. Eine Fatalität, die Sie von unserm Hrn. Direct. Schulthess erfahren können, hat mich genöthiget Hières eher, als ich dachte zu verlaßen. Aber es thut mir nicht leid es verlaßen zu haben; da ich hier in allen Absichten beßer bin, als dort. Der erste Strahl der aufgehenden Sonne fällt gerade in mein Zimmer, und dieses wolthätige Gestirn verläßt mich hernach den ganzen Tag nicht mehr, bis sein lezter Stral über die westlichen Berge herab glitschet. Die Statt Nizza habe ich mit ihrem Hafen gerade vor mir in einer geringen Entfernung, und etwas zur Seite das mit Millionen Orangen, Feigen und Olivenbäumen besezte Thal, mit angenehmen Hügeln umgeben, über welche Höhere Berge ihr graues Haupt empor heben. Meine Gesundheit hat hier schon merklich gewonnen und ich hoffe, daß der Monat May mich in meiner ehemaligen Gestallt für ihr Gesicht stellen werde. So angenehm und so frühlingähnlich der Winter hier ist, so fühle ich doch schon, daß er mich zu lang abhalten wird die Berge zu übersteigen, die mich von Ihnen trennen. In meiner Jugend hätte die einsamste Hütte in diesem Thal, alle meine Wünsche befriediget; aber bey meinem herannahenden Grauen Alter, hat die Natur mit allen ihren Schönheiten nicht Krafft genug mich ganz zufrieden zu stellen. Meine Sinnen haben izt alles, was sie verlangen; aber das Herz hat Ansprüche, die auch befriediget seyn wollen. Ich merke, daß alle Wärme, die allmählig von den Sinnen wegweichet in das Herz herüber geht. Hierin liegt ohne Zweifel der Grund des immerwährenden Andenkens an die sandigen Ebenen, die meinen Moabitischen Landsiz bey Berlin umgeben, ob sie gleich gegen dieses Thal, eine Wüsteney sind. Aber von dieser Wüsteney muß ich sagen: [→]attalicis conditionibus num quam dimovear. Es ist sehr gut, daß ich nicht in meinen jüngern Jahren diese Reise gemacht habe; sie würde mich vermuthlich abgehalten haben, wieder über die Alpen zurük zugehen.

Was Sie mir von dem guten Lavater schreiben, hat mich traurig gemacht, und ich habe den Dr. Zimmerman ermahnet der ausschweiffenden Phantasie seines Freündes einen Zügel anzulegen. Auch ich habe in Basel Gelegenheit gehabt Proben von der Verderbnis zu sehen, die der Herderismus anrichtet. Es ist ein Unglük, daß das Reich durch so viel innerliche Uneinigkeiten zertheilt ist; denn sonst wär es leicht, das Übel zu hemmen. Wieland wär allein im Stande dieses zu vollführen. Aber izt hat er mit seiner eigenen Noth genug zu thun. La Beaumelle hat mir durch seinen Commentaire sur la Henriade deütlich erkläret, was ich mir selbst nie erklärt hatte; warum ich dieses Gedicht nie habe lesen können. Laßen Sie mich bald vernehmen, daß dieser Winter Ihnen so gut bekomme, als er mir bekommt. Ich umarme Sie von Herzen.

JGSulzer

Nizza den 11. Dec. 1775

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

An Herrn Profeßor Bodmer

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am linken Rand der ersten Seite: »Taceantur«.

Stellenkommentar

Eine Fatalität
Sulzers Köchin war kurz zuvor gestorben. Zudem hatte sich winterliches Wetter mit Schnee und Sturm eingestellt. Vgl. Sulzer, Reisetagebuch, 1780, S. 149.
attalicis
Hor. c. I, 12 f. Übers.: »selbst unter Bedingungen, die ein Attalus bietet«. (Horaz, Buch 1 der Oden, 2018, S. 237).
habe den Dr. Zimmerman ermahnet
Siehe Sulzers Schreiben an Zimmermann aus Hières vom 20. November 1775, in dem er auch Stellen aus Bodmers Brief wiedergibt: »Und nun erlauben Sie mir mein theürester, Ihnen offenherzig von unserm guten und mir höchst schäzbaren Lavater zu sprechen, für den ich anfange sehr besorgt zuseyn. Vor wenig tagen bekam ich einen Brief von Bodmern, deßen Liebe und Freündschafft für Lavatern mir bekannt sind, und der Brief enthält Nachrichten, die mich in Besorgnis sezen. Folgendes ist getreü aus Bodmers Brief copirt. [...] Ums Himmels willen, halten Sie doch den guten Man etwas zurüke. Sie vermögen mehr über ihn, als sonst irgend jemand. Bodmer meldet mir ferner, daß einige ihrer besten Köpfe durch den izt überhandnehmenden Herderismus gänzlich verdorben worden. Und ich selbst habe Spuhren hievon in Basel gesehen: Herder hat Göthe verdorben, und Göthe verdirbt hundert andere. Es scheint mir wichtig, daß man sich mit Ernst dem empfindsamen Unsinn, der die Stelle der Vernunfft einnehmen will, widerseze.« (LBH, Ms XLII,1933,A,I,I,93, Bl. 151).
durch seinen Commentaire sur la Henriade
L. A. de la Beaumelle, Commentaire sur La Henriade, par feu Mr. de la Beaumelle erschien posthum und überarbeitet in Berlin 1775.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann