Brief vom 22. Dezember 1775, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 22. Dezember 1775

Der Winter hat keine sonderliche gewalt an mir geübet; ich habe ihn durch Oefen und pelze gezähmt. Ich lebe m. Liebster und mit neuem bestreben seitdem ich Ihre Widerkunft von den Gränzen des Grabes vernehme. Die lenkung die sie von den pforten des Todes in das Elysium von Nizza genommen ist ganz nach m. Herzen. Möchte ich aus diesem pandæmonium des Dr. Zimmermanns zu ihnen über die Alpen fliegen! Ich hatte sehr nöthig durch diese belebende nachricht eine niederdrükende zu besänftigen.

Mein guter professor Hartman ist nicht mehr! Ich hatte gehoffet wenn er zur Consistenz käme so würde er der literatur die moralischen dienste thun die der flatternde Wieland ihr nicht gethan hat. Gewiß hätt er m. Andenken ein halbes jahrhundert bewahrt. Breitinger und Steinbrüchel liebten ihn nicht, weil er in einer Gazette gesagt hatte, Zürch habe keine philosophen. Und er hatte es Lavatern nachgesagt. Er schrieb mir vom 1. Sept. daß eine Ode von ihm auf Sie und mich gedrukt wäre. Er glaubte daß sie bey mir wären und bat mich sie zärtlich zu grüssen.

Ich hätte Klopst. und Wieland weniger beweint. Wieland hat alles gute gethan, was er thun konnte; Klop: ist so hoch gestiegen daß er stille stehen oder fallen muß. [→]Nicolai, der Vater des Nothankers ist auch gestorben. Dieser reuet mich nicht. Er hat die patriarchiaden weggewizelt. Sein Geschmak war modern und seine Critik betrüglich.

Der gute Lavater hat von Dr. Semlern und andern puffe empfangen, die, wenn sie körperliche wären, einen stier niederlegen könnten. Erstreken sie das Homerische Gleichniß nicht über die schnur. Sollen wir ihm wünschen daß er s. schwärmerey erkenne? In welche Verlegenheit würd er gesezet! Was müste er in der Aufrichtigkeit seines Herzens thun? Regimber contre l'aiguillon? Wieland hat in den deutschen Merkur nach seinem eigenen Ausdruk ein wenig schierling unter das Niesewurz Tränkgen gegossen, [→]welches unser professor Meister Lavatern in seinen Vorlesungen über die Schwärmerey, die izt gedrukt sind, eingeschenkt hat. Er sagt, so nahe er seit einigen jahren an der Gränze des andern Extreme herumgeschweift, so könne er doch unmöglich geschehen lassen, daß seinem lieben Enthusiasme zu viel geschehe.

Wieland hat Meistern geschrieben, daß es ihn besonders schmerzete, aus vielen stellen gesehn zu haben, daß er Lavatern nicht in dem lichte sehe, worinn er wünschete, daß man ihn sehen könnte. Seitdem er seine Physiognomischen Fragmente studire und den Mann immer besser kennen lerne, finde er ihn Einen der herrlichsten Menschen, die je gewesen sind.

Dr. Hirzel sagt, es sey Zeit daß Lav. Chamade schlage. Mir ist für ihn nicht bange, er hat immer Consensum multitudinis, und zu antesignanis Wieland und Göthen. Göthen ist izt bei ihm (Wieland) in Weimar. Sie sind aus feinden freunde worden, zween Waffenträger Lavaters!

Man hat hier eine Brochure, in welcher Wielands Abrahamide, Sympathien mit einem Eifer gelobt werden, der per Repercussionem seine Musarion, Idris, Amadis zu boden schlägt.

Ich habe eine kleine Zürcherwonne genossen, Escher, mon neveu par alliance hat drey stimmen zur Zwölferstelle gehabt, sein Concurent war ein Taugenichts, aber von den Zwölfermachern unterstüzt, doch Einer derselben hatte das zarte gewissen daß er zu meinem Escher übergieng und dieser bekam so vier stimmen. Der andere hatte eben so viele. So ward was wir einen Stich stylsieren. Einen stich zu entscheiden gehört den Zweyhundert, und von ihnen hatte mein mann 65 stimmen, der andere etliche und zwanzig, und dieses nannte man meinen Triumph.

Ich habe eine Ursache mehr mich in die Tempe zu wünschen, wo Sie izt sind, ich denke daß Petrarchas und der Provenzalen Canzoni, mots et sons, in den pomeranzengerüchen gelesen, tausend Reize mehr haben, als in unserm Nebelgestank und, ne vous en deplaise, in den berliner sandbänken. Und diese Lieblichkeiten möchte ich an Ihrer seite geniessen

In Gerüche Jasmin und Orangen verhüllt. –

Lassen sie mich in dem sieben und siebzigsten jahre noch Wünsche, Entwürfe und Schemen machen die nimmer erfüllt werden; immer ist ein Vergnügen damit verbunden. Ich umarme sie mit meinen schönsten Wünschen.

Ihr Bodmer

Zürch den 22sten december 1775

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Eigenhändige Korrekturen

die je gewesen sind.
die je gewesen , in seinen Augen seysind.
bei ihm (Wieland) in Weimar
bei ihm(Wieland)⌉ in Weimar

Stellenkommentar

Hartman ist nicht mehr
Hartmann war am 5. November 1775 in Mitau gestorben.
in einer Gazette gesagt hatte
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1774-06-29.html.
schrieb mir vom 1. Sept. daß eine Ode
Hartmanns Schreiben vom 1. September 1775: »Bald sehen Sie es gedruckt, ein Denkmahl für Sie und Sulzer. Wenn Sulzer bey Ihnen ist, so grüssen Sie ihn in meinem Namen.« (ZB, Ms Bodmer 2a.4). Gemeint sind die Oden An Bodmer und An S.**, posthum publiziert in: G. D. Hartmann, Hinterlassene Schriften, 1779, S. 158–162. Hartmann betont darin, dass Sulzers Name »Groß, wie Leibnizens Name tönt«.
Nicolai [...] gestorben
Aus welcher Quelle Bodmer diese Falschinformation hatte, konnte nicht ermittelt werden. Friedrich Nicolai starb erst 1811.
von Dr. Semlern und andern puffe empfangen
Semler führte 1775 einen Briefwechsel mit Lavater über die Gaßnerischen Wunderkuren und bezog sich u. a. in der Hallischen Gelehrten Zeitung vom 13. April 1775 auf einen Brief Lavaters. Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte Semler bei Hemmerde seine Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen.
Regimber contre l'aiguillon
Sprichwörtl. »sich sträuben«, »nicht nachgeben«.
Wieland hat in den deutschen Merkur
Vgl. C. M. Wieland, Auszüge aus einer Vorlesung über die Schwärmerey. In: Der Teutsche Merkur, 1775, Bd. 4, S. 134–155, hier S. 134.
professor Meister Lavatern [...] eingeschenkt
Leonhard Meister hatte Lavater in seiner Vorlesung Ueber die Schwermerei, 1775, heftig kritisiert.
Wieland hat Meistern geschrieben
Wieland an Leonhard Meister, 10. November 1775. (Wieland Briefwechsel 1983, Bd. 5, S. 440).
Consensum multitudinis
Übers.: »Zustimmung der Mehrheit.«
antesignanis
Übers.: »Vorkämpfer«.
bei ihm (Wieland) in Weimar
Goethe war der Einladung des Erbprinzen und späteren Herzogs Karl August gefolgt und hielt sich seit dem 7. November 1775 in Weimar auf.
ne vous en deplaise
Übers.: »ob es Ihnen gefällt oder nicht«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann