Brief vom 9. Juli 1768, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 9. Juli 1768

Berlin den 9 Julij. 68.

Es ist seltsam genug, daß ich noch nahe an dem Mittag des Lebens so ofte der Nachsicht und der Aufmunterung eines Freündes bedarff, bey dem der Abend schon eingebrochen ist. Meine Unthätigkeit hat etwas mehr auf sich, als sie sich vorstellen. Sie komt von dem Unvermögen her seine Gedanken zu sammeln, und sich in die Faßung zusezen, die einige Anstrengung des Geistes verstattet. Manches, das ich thun könnte oder sollte und auch würklich thun würde, unterlaße ich blos weil es mir nicht zu rechter Zeit ins Gedächntis komt. Daß ich auf die Meteora in dem Reich des Geschmaks so wenig aufmerksam bin, mag wol aus einer andern Ursache herkommen. Von den Häuptern der deütschen Literatur bin ich in vielen Stüken so entfernt, daß wir nicht einmal verständlich mit einander reden könnten. Denn wir kommen in den Grund Begriffen, und folglich auch in Bedeütung der Wörter nicht mit einander überein. Ich habe Weißens Romeo und Julie vorstellen sehen, und doch habe ich Ramlern und andern Bewundern des Weißens nicht begreifflich machen können, woher es komt, daß der Größere Theil dieses Stüks von mir ins abgeschmakte gesezt wird. Was wollen Sie denn bey einem Volk ausrichten, in deßen Augen Weiße ein Sophocles ist, und das auf Gleimen stolz ist? Ich habe schon vor mehr, als 20 Jahren gesagt, daß Gleim auch mit einem Grauen Kopf ein Knabe seyn werde. Doch ich kan von diesen Sachen nicht mit Zuverläßigkeit sprechen, weil ich es nicht über mich bringen kan die so viel Freüde in der deütschen Welt verursachende Kindereyen zu lesen. Was ich davon weiß habe ich von hören Sagen und von dem, was die Gelehrten Zeitungen etwa davon erzählen.

Sagen Sie mir doch etwas mehr von der Brochure sur l’origine de la Religion: dafür schenke ich Ihnen alles, was Sie mir von des Cammerer Meisters Anti-fleuri sagen könnten. Von seines Sohns Geschiklichkeit hat mir auch Müller eine große Vorstellung gemacht. Deßen ungeachtet getrau ich mir so wenig ihm hier eine Stelle auszumachen, als ich es für Müller gethan, ehe ich ihn selbst gesehen habe. Es ist bey solchen Fällen auf beyden Seiten verschiedenes zu bedenken. So wenig ich weis, ob er für die Stelle gemacht ist, so wenig weiß er, ob die Stelle für ihn ist. Wär er hier und beydes hätte seine Richtigkeit, so könnte ich ihm die Stelle ohne Mühe verschaffen.

Ich habe mit Voßen wegen der Noachide keinen Vertrag gemacht. Er hat weder an mich noch an Sie etwas zu fodern, folglich können Sie ungehindert thun, was Sie wollen.

Auch ich traue Zimmerman zu, daß er im Stand wäre dem Strohm des Gothicismi einen Dam vorzusezen. Aber ich glaube nicht, daß er es thun werde. Wer kann sich die Mühe geben, sich mit so viel Kinderey zu schaffen zu machen um zu zeigen, daß es Kindereyen sind?

Füßli hat mir im Septemb. vorigen Jahrs einen Brief geschrieben der mir, nachdem er ganz England durchreiset im Junio dieses Jahrs zugekommen ist. Er weis noch nicht, wie man einen Brief nach Deütschland schiken soll. Er meldet mir nur, daß er bisweilen etwas für die Buchhändler arbeite, daß er eine Reise durch England gemacht habe um, wie ich es verstehe, Materialien zu einem Werk, vermuthlich über Englands Sitten, zu sammeln.

Es ist mir nicht wol begreiflich, woher die stolzen Berner so gar demüthige Diener einer gewißen Macht geworden sind. Wenn ein gewißer General sie durch seine Beredsamkeit dazu gebracht hat, so müßen sie sehr leicht zu bereden seyn. Denn unter ihren 200 sind zuverläßig 190 die den General sehr weit übersehen. Denn ihn zu übersehen, ist was ganz geringes.

Was Sie mir von unserem Freünd von Neftenb. schreiben betrübet mich. Dergleichen Männer sind schweer zu ersezen. Es mag wol seyn daß der Liebhaber meiner Nichte noch viel vor sich hat. Aber ich erfahre nun zum erstenmal, daß es bey Ihnen nach der Ancienneté geht. Würden diesem Mann die 30 ältere auch so unüberwindlich im Weg stehen, wenn er ein anverwandter ihrer Statthalter und Sekelmeister p. wäre?

Von Klozen haben ihre Trauerspiele und besonders das Rehearsal ihr Urtheil empfangen. Sie wollen mit Gewalt neüe Händel anfangen. Denn eine andre Absicht kann man unmöglich haben, wenn man einen so glorreichen Schriftsteller, wie Weiße ist tadelt, und die Trauerspiele sind ein Gewäsche, und hiemit ist die ganze Sache nun abgethan, die übrigens nicht die geringste Beziehung auf die Litteratur hat.

Daß in Deütschland noch Philosophen sind, wird jeder Kenner überzeügend einsehen, wenn die Academie die Schriften herausgeben wird, die dies Jahr ihren Philosophischen Preis erhalten oder nach an denselben gekommen sind. Wegelin empfiehlt sich Ihnen. Sie müßen sich vornehmen seine Cæsaren nicht von der Seite des Geschmaks, sondern der Philosophie zu beurtheilen.

Ich umarme Sie von Herzen. JGS.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Körte 1804, S. 376–378.

Eigenhändige Korrekturen

in deßen Augen
in⌉ deßen Augen
Sitten, zu sammeln
Sitten, zu machensammeln

Stellenkommentar

Weißens Romeo und Julie vorstellen sehen
Wann und wo Sulzer Christian Felix Weißes Romeo und Julie in Berlin gesehen hatte, konnte nicht ermittelt werden. Ab 1771 wurde das Stück auf der Koch'schen Bühne aufgeführt. Zu Weißes Romeo und Julie vgl. Häublein Shakespeare auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts 2005, S. 40–48. – Hüttemann Weiße und seine Zeit im Verhältnis zu Shakespeare 1912, S. 64 f.
im Septemb. vorigen Jahrs einen Brief
Nicht ermittelt.
gewißer General
Anspielung auf Robert Scipio von Lentulus.
ihr Urtheil empfangen
[C. A. Klotz], Neue Theatralische Werke (Rez.). In: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, 1768, Bd. 2, St. 1, S. 90–107.
dies Jahr ihren Philosophischen Preis erhalten
Die Akademie hatte 1768 als Preisaufgabe einen Éloge auf Leibniz ausgeschrieben. Prämiert wurde die Arbeit von Jean Sylvain Bailly, Eloge De Leibnitz, 1768. Vgl. Buschmann Philosophische Preisfragen und Preisschriften der Akademie 1987, S. 788.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann