Brief vom 29. Juni 1768, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 29. Juni 1768

den 29sten Junius 1768.

Ich erwartete Vorwürfe, und Sie mein theuerster, sind mit dem Menschen zufrieden, der im siebzigsten jahre noch Rehearseals schreibt! Dem der Verfasser des Junius Brutus nicht verzeiht! Sie wissen, daß es Laune ist die mich dergleichen Zeug schreiben heißt; und unschuldige Laune, die vergnügt, ist erlaubt, wenn sie gleich nicht prediget.

Ich möchte wissen ob sie dem Tyrtäus Gleim auch verzeihen, daß er in dem Winter seines Lebens alle Mädchen küßt, die er sich denket. Er bevölkert jeden Winkel der Erde mit Amors und kann ohne ihr Ministerium nicht ins Kapitel gehen; sie müssen ihm den Mantel umlegen. Eine Grisette könnte einem schönen Knaben nicht süssere fleurettes sagen, als er seinem Jacobitchen. Er hebet sich nicht einen Zoll über die Ruelle empor, und ist der Antipode von Petrarch. Unser Doctor Hirzel ist davon acht Tage in Entzükung gewesen. Wenn es so fortgeht so werden wir für gelehrte Männer Sibariten bekommen, und Sibariten sind doch artigere Pedanten.

Sie sind ungerecht, mein Liebster, wenn sie sich die Munterkeit des geistes absprechen; aber ihre Munterkeit ist eine männliche, und sie hat die Laune daß sie sich lieber in dem lebendigen Umgang als auf dem papier mittheilt.

Ihre Verachtung des publici nimmt Ihnen die geduld und das phlegma das zum schreiben gehört. Könnte man ihnen die braven leute, die sind, wiewol von ihnen entfernt und zerstreut, die bessere Nachwelt, die freunde, die ihren schriften so sehnlich entgegensehen, recht intuitive vor augen bringen; sie würden sich bald in den Stand der Munterkeit und des Wachens sehen, und ich würde das Wörterbuch erleben welches den Triumph der Herderischen und Klossischen Klassiker auf einmal niederschlagen würde.

Lavater schreibt ein langes Gedicht über die Unsterblichkeit und die Ewigkeit in strophen und Reimen. Er ist im Begriff einen plan davon zu publicieren. Ich fürchte daß mehr Empfindung als Logik und Metaphysik darein kommen werde. Was für Ernst kann bey Reimen seyn? Er hat über dieses Vernehmen mit Dr. Zimmermann Rath gehalten, den er für seinen Apollo in Poesie und Metaphysik hält. Ich denke zuweilen, daß Zimmermann der Liscow seyn könnte, den ich so lange zum besten des Geschmakes erwartet habe. Einige von den neuen Klassikern sind ihm unausstehlich; er hat aber einen modernen Hang, für den mir bang ist.

Lavater schreibt gerad izt des verstorbenen liebsten Hessen Eloge. Er ist ein polypragmon; es ist erstaunlich unter was für tausendfältigen dissipationen er schreibt.

Unser Freund von Neftenbach ist in hiesiger stadt, die Vipercur zu brauchen. Er hat an gedächtniß und gemüth stark gelitten. Ich habe keine hoffnung zu seinem Aufkommen.

Sagen sie mir doch, ob sie mit Vos wegen der Noachide in Verbindungen stehen, oder ob mir erlaubt sey, eine neue auflage zu veranstalten. Ich habe wieder gegen hundert neue verse in dieselbe gemacht, von welchen ich glaube, daß sie mehr grazien darein bringen würden; wiewol nicht dergleichen grazien, an welchen sie den deutschen Anakreons mangelhaft scheint.

Der Liebhaber ihrer guten Nichte hat mehr als 30. Expectanten vor sich, eh Hr. Sekelm. H. oder Hr. Canon. Br. ihn in unserem land zu einer pfarre helfen können. Eine pfarr im thurgau von pfaffen kostet mehr als Annaten. Sein bruder, pfarrer zu Hüttlingen könnte sonst am besten dafür sorgen.

Derschau hatte verlangt daß die truppen die in Neufchatel liegen die ihm verdächtigen personen in Haft nehmen sollten. Bern hat ihm willfahren wollen, aber Freiburg und Luzern haben sich widersezt, weil der Magistrat die Judicatur habe, und ihre Truppen nur zur Bedekung da seyn, wenn der pöbel sich unnüze machte. Bern hat nachgeben müssen, und Derschau es zufrieden seyn. Man hat dem Magistrat selbst in violente suspicionem fassen wollen, daß er den mord und die aufruhr angestifftet habe.

Es ist am tag, daß Gaudot von den Grenadiers umgebracht worden, jungen Herrn und Bürgerssöhnen, die seit einiger Zeit Waffen aus dem stadtzeughaus empfangen hatten, sich darinnen zu exerciren. Einige von ihnen sind von der stadt gewichen. Sie sollen sich gerühmt haben, daß sie eine patriotische that verrichtet hätten.

Bern hat in seinem Land depositionen von leuten, die bey dem Tumult gewesen, aufnehmen lassen, als ob es seine pflicht wäre, einer partey Zeugen zu suchen. Oft dächte man, daß es sich selbst verlezt hält, doch würde es gern Richter seyn, wenn Luzern und Friburg auch wollten.

Der gewesene procureur general Tronchin ist hier gewesen, doch nur als eine privatperson; er reiset, zur Lust, sich von seinen Staatsfatiguen zu erholen. Hr. sekelm. H., Herr director Schuldheiß – haben ihm aufgewartet.

Ich bin seit drey jahren nicht in Winterthur gewesen, Künzli ist nicht mehr, der Diacon kömmt von zeit zu zeit zu uns, Hr. Schuldheiß nicht; ihn plagt das Podagra oft. Ich stehe wieder völlig in unsers Consuls L. Gunst; sie wissen, daß ich es mit ihm in den jahren, die ich in der reformationsKammer war, wegen eines Ringes verderbt hatte. Die Kirche zum grossen Münster ist recht gut gerathen, sie sollten sie sehen. Izt deliberirt man über den abgebrannten thurm, ob man ihm eine haube, flèche, coupole aufsezen wolle; ob man nicht die fléche am Karlsthurm auch abnehmen wolle. p.

Füßli beym Feuermörser will mein successor in der Helvetischen Hist. werden.

Ich umarme Sie. B.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Eigenhändige Korrekturen

gleich nicht prediget.
gleich nicht würkt, noch sollte nicht prediget.
als er seinem Jacobitchen.
als er seinem Jacobitchen.
für gelehrte Männer Sibariten
für gelehrte ⌈Männer⌉ Sibariten
schreibt gerad izt
schreibt ⌈gerad⌉ izt
ihm eine haube
ihm eine hab haube

Stellenkommentar

Tyrtäus
Griech. Elegiendichter. Vgl. die Widmung Lavaters an Gleim in An den Leser in den Schweizerliedern, 1767: »Wenn Leser! dir mein Reim gefällt,/ Danks dem Tyrtäus Gleim:/ Der sang von Helden wie ein Held/ Und dessen ist mein Reim.« (unpag.).
Eine Grisette
Anspielung auf die Briefe von den Herren Gleim und Jacobi, die 1768 erschienen. Johann Georg Jacobi war Mitte 20, Gleim knapp 50 Jahre alt, als sie ihren von vielen Zeitgenossen als skandalös empfundenen Briefwechsel publizierten. Tatsächlich erregten Briefstellen wie »Freundschaft ist nicht weit von Liebe. Alles hab' ich bei Ihrem Abschiede empfunden, was ein Liebhaber empfinden kan« sowie die Tatsache, dass sich die beiden für ihre zärtliche Männerfreundschaft klassische Liebespaare wie Petrarca und Laura zum Vorbild nahmen, die Gemüter. Neben Bodmer machte sich auch Herder über die »Halberstädter Liebesbriefchen« lustig. Dabei leitete der Briefwechsel ein »neues Stadium der empfindsamen Freundschaft und sympathetischen Gefühlskultur« ein. (Aurnhammer Lorenzo-Orden 2004, S. 106).
langes Gedicht über die Unsterblichkeit
J. C. Lavater, Aussichten in die Ewigkeit (1768–1778). Lavater hatte ursprünglich geplant, das Werk als Lehrgedicht zu verfassen (Kohler Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung 2015, S. 16). Siehe auch Kommentar zu Brief letter-sb-1766-11-20.html.
des verstorbenen liebsten Hessen Eloge
J. C. Lavater, Denkmal auf Johann Felix Hess, 1774.
Hr. Sekelm. H. oder Hr. Canon. Br.
Johann Conrad Heidegger und Johann Jakob Breitinger.
daß Gaudot von den Grenadiers umgebracht
Claude Gaudot, preußischer Generaladvokat, der am 25. April 1768 in Neuenburg ermordet worden war.
ihn plagt das Podagra
Gicht. Vgl. Johannes Sulzer in einem Brief an Bodmer vom 14. Januar 1765: »Seit 4 Wochen hat sich ein ganz ungebettener Gast bey mir eingefunden, der mich kaum aus dem Bette, geschweige außert das Hause gelaßen, ja so indiscret gewesen, daß er, ohngeachtet der sorgfältigen Pflege, mich immer gequält und geplagt: ich muß ihm, nach den angaben meines Medici, den verhaßten Namen Podagra geben.« (ZB, Ms Bodmer 5.18).
Consuls L.
Hans Kaspar Landolt.
Füßli beym Feuermörser will mein successor
Johann Heinrich Füssli (vom Feuermörser) begann in dieser Zeit zunehmend als Historiker und mit historischen Quellen zu arbeiten. 1775 bis 1785 war er als Nachfolger Bodmers Professor für Vaterländische Geschichte am Carolinum in Zürich.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann