Brief vom 20. Juni 1767, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 20. Juni 1767

Mein theürester Freünd.

Ich kann mich kaum überwinden, Ihnen über die Angelegenheiten ihres Vaterlandes etwas zu sagen, so gänz verächtlich kommen mir die Veranstaltungen und so sehr verlohren alle Kräffte vor. Ich fange an zu wünschen, daß Sie, wie ich gleichgültig dabey sein möchten, da die Bestrebungen ohne Nuzen sind. Laßen Sie uns das, was geschieht so ansehen, als läsen wir es in der Geschicht eines längst nicht mehr vorhandenen Volks. Ich glaube, daß die lezte kränkende Empfindung über den Zustand unsrer Sachen bey mir schon vorüber ist: aber es war die schlimmste, weil ich fühlte, daß die Größte Schande auf die fallen wird, die von allen Helvetiern mich an nächstem angehen.

B. scheint noch so viel Stärke des Temperaments zu haben, daß der Tod nicht ohne eine Crisis erfolgen wird; das unsrige hat die Krafft nicht mehr, eine solche hervorzubringen. Wir krümmen uns nicht einmal, da man uns erdrüken will, und wir legen uns selbst an die Erde damit man ohne Mühe uns zertreten kann.

Kommen Sie also mein theürester, wieder zu den Musen zurüke, und machen Sie es wie Cicero unter Cæsars Dictatur, und seyen Sie der ganzen Welt nüzlich, da Sie ihren Bürgern nicht länger nüzlich seyn können. Sollte das Feüer des Dichtens bey Ihnen ausgehen, welches doch nach dem Zeügnis ihrer Calliope noch da ist, so bleibt doch die Wärme der Philosophie noch da.

Ich bin nahe am Ende einer höchst beschwerlichen und verdrießlichen Arbeit, die ich mir Bey Übernehmung der Verbeßerung des hiesigen Kön. Gymnasii aufgeladen habe. Dann möchte ich doch auch wieder zu den Musen übergehen, wenn nur mein unruhiges Schiksal mich nicht wieder zu neüen Arbeiten verurtheilet.

Nächstens hoffe ich Ihnen zu melden, daß meine Kinder die Poken glüklich überstanden haben. Heüte sollen sie sich zeigen, da sie vor etlichen Tagen den Saamen dazu freywillig in ihr Blut genommen haben. Wenn dieses wird vorüber seyn, so werde ich mit ihnen in meine Ländliche Einsamkeit ziehen.

Wir haben ihren Brief an Wegelin erst vor drey Tagen bekommen, und können von der Sache, dabey die Hrn. Pestaluz intereßirt sind noch nichts weiters sagen, als daß der Advocat Troschel für einen geschikten und ehrl. Advocaten gehalten wird, und daß die Proceßordnung sich weder durch Recommendationen noch durch andere wege verändern läßt. Wir werden aber doch nähere Erkundigung dieser Sache halber einziehen.

Jezt seze ich auf dieses kurze billet die Feder zum fünften mal an. So sehr ofte werde ich von ungestühmen Menschen abgeruffe und würklich vergehen mir alle Gedanken über das, was ich Ihnen schreiben wollte. Wir müßen also auf beßere Muße warten.

Wir haben hier einen Prinzen verlohren, der vielleicht der beste in Europa war und einer der besten Menschen, die ich gekannt habe.

Dieses sollen Sie mir also nicht für einen Brief, sondern nur für einen freündlichen Gruß anrechnen. Sagen Sie doch dem guten Lavater, daß ich ihm selbst für seine Schweizer Lieder danken werde.

JGSulzer

den 20 Junij

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

An Herrn Profeßor Bodmer in Zürich.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf dem Umschlag: »Cum hanc Epistolam acciperem, mea jam veredario reddita erat«. – Siegelreste.

Stellenkommentar

B.
Bern.
Saamen dazu freywillig
Zur Geschichte der Pockenschutzimpfung in Preußen und in Österreich, wo Maria Theresia, nachdem sie selbst an den Pocken erkrankt war, die Impfung mit menschlichem Blatternsekret 1768 einführte, vgl. T. Hartung, Zur Entwicklung der Pockenschutzimpfung im 18. und 19. Jahrhundert, 2001, S. 8–14.
ihren Brief an Wegelin
Nicht ermittelt.
Advocat Troschel
Der Kammergerichtsadvokat Christian Ludwig Troschel.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann