Brief vom 1. Oktober 1765, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 1. Oktober 1765

1 Octob.

Seit langer Zeit hat mich nichts so ungewöhnlich überrascht, als die seltsame Beschreibung, die Sie, mein theürester Freünd, in ihrem lezten Schreiben, von meiner Lebensart und meiner Haushaltung machen. Wenn jemand von meinen hiesigen Bekanten sie lesen sollte, so würde man sie für eine Ironie halten, und wenn ich Ihnen das wahre Gemälde von meiner Lebensart geben werde, so werden Sie, ohne weitere Erinnerung begreiffen, wie sehr die Einbildungskraft einer gewißen Person die Gegenstände verkehrt, und wie unfähig sie ist, irgend etwas in seiner wahren Gestallt zu erbliken. Wiewol ich mich selbst kaum überreden kann, daß das, was man von mir geschrieben hat, blos einer verkehrten Einbildungskraft, ohne bösen Willen zuzuschreiben sey. Können Sie glauben, daß ihr Freünd, der in seinem Hause gerade das Leben führt, welches er vor 3 Jahren in dem ihrigen unter ihren Augen geführt hat, der keinen größern, keinen ernstlichern Wunsch hat, als die Menschen aus dem großen Gesellschaftlichen Leben und aus den Städten auf ihre alten Wohnpläze das Land und in das arbeitsame Feldleben zurük geführt zusehen, daß dieser Mensch mit Besuchen und Gastirungen seine Zeit zubringe? Hier in Berlin sieht man mich für einen Menschen an, der für sich lebt, der entweder aus Sparsamkeit, oder weil er Menschenscheü ist, oder aus Noth die gewöhnliche Lebensart nicht nachahmen will oder kann. Ich muß von meinen Bekannten keinen Vorwurff öfterer hören, als diesen, daß ich mich seit einigen Jahren allen Gesellschaften entzogen, daß ich zu einsiedlerisch lebe u. s. f. Nun werden Sie ohne Zweifel ihre Kräfte anspannen, ein so seltsames Paradoxum aufgelößt zu sehen. Ich kann es Ihnen einigermaaßen auflösen. Nehmen Sie nur an, daß ich in meinem Haus eine Person habe, die würklich Nichts in ihrer Wahren Gestallt zu sehen vermögend ist, deren Einbildungskraft unendlich beschäftiget ist, aber gar niemal von Verstand geleitet wird. Doch damit Sie sehen, daß dieses allein das Paradoxum nicht ganz auflöset, muß ich Ihnen sagen, daß ich meinen Kindern und ihrer Aufseherin nichts mehr vorwerffe und über nichts mehr mein Mißvergnügen zeige, als daß sie so ofte auslauffen und so viel unnüze Besuche machen; daß ich schon mehr als einmal ernstlich befohlen habe, es soll nur ein Nachmittag in jeder Woche zum ausgehen bestimt seyn, welches ich aber niemals erhalten habe; sezen Sie hinzu, daß ich hier fast gar keine Verwandte habe, daß hier keine Namensfeste, keine Glükwünschungen u. d. gl. die bey Ihnen so viele Besuche veranlasen seyen, mit einem Worte, daß gar sehr selten die Anständigkeit oder gewiße Local Gewohnheiten Besuche nothwendig machen, und beurtheilen Sie denn die Klage über die Nothwendigkeit vieler Besuche. [→]Quis tullerit Grachos de sedetione etc. Dieses ist aber nicht der einzige Fall, aus dem ich sehe, daß eine gewiße Person die Wahrheit nicht allemal ehre. Der Wunsch, daß ich doch einmal die Tabulas domus, das Ausgaben Buch nachsehen möchte, ist eine Anklage, daß ich es niemal gethan habe. Allein ich habe es so lange gethan, und so lange Erinnerungen darüber gemacht, als ich mich mit der Hoffnung schmeichelte, etwas damit auszurichten und ich thue es nicht mehr, seit dem ich sehe, daß diese Hoffnung eitel gewesen.

Nun nehmen Sie einige Proben der von allem Verstand verlaßenen Einbildungskraft. Dieses betrift meine gegebenen und empfangenen Besuche. Beyde in dem Sin, wie ich merke, daß sie genommen werden, sind so gänzlich aus meiner Lebensart verbannt, daß ich in einem Jahr kaum eine oder zwey gebe oder nehme, wodurch ich mich fast von allen Menschen, die hier leben unterscheide. Vom Frühling an bis izt habe ich mancherley Geschäfte gehabt, die Einrichtung der neüen Ritter Academie, eine auf Königlichen Befehl unternommene weitläuftige Untersuchung über die Finanzen der Academie der Wißenschaften, wovon ich eigentlich die Seele und die Haupttriebfeder war, haben mir unzählige Gänge verursachet, haben Häuffige Zusammenkünfte in meinem Haus veranlaset, haben viel Menschen in Geschäften zu mir geführt, die ich bald stehend bald sizend, so kurz wie möglich abgefertiget habe. Dies sind die Staats und Ehren Visiten die ich gebe und Empfange. Wenn ein Kauffman durch seinen Commis mir einen an ihn eingeschloßenen Brief schikt, den ich unter der Thür empfange, so heißt auch dieses ein Besuch. Nun wegen der lächerlich so genannten Repas. Seit einem Jahr habe ich ein einziges mal drey oder vier Herrn, welche meine Collegen Toussaint und Wegelin gerne wollten kennenlernen, mit diesen auf ein Mittag Eßen eingeladen, welches mir wegen der elenden art, wie es veranstaltet worden, alle Gedanken mehr dergleichen zubestellen, gänzlich benommen hat. Wenn nun etwa ein Bekannter um die Mittagsstunde bey mir eintrit dem ich mein frugales Mittags Brod anbiethe, so wird dieses vermuthlich auf die lächerliche Liste meiner Repas geschrieben; oder wenn mein Neveu hier durchreißt und ich bestelle ihn, um Zeit zuhaben mit ihm zusprechen, auf das Mittageßen zu mir, so habe ich ein Repas gegeben.

Was Sie wünschen, mein theürer Freünd, daß ich blos für mich und für meine Kinder leben möchte, das thue ich buchstäblich so weit es unvermeidliche Geschäfte erlauben. Aber daß ich Geschäfte annehme, wo ich etwas gutes auszurichten hoffe, daß viel Leüthe in und außerhalb mir Verrichtungen auftragen, hindert mich gar sehr ofte nach meiner selbst gewählten art zuleben. Jenes thue ich aus Neigung und Pflicht, dieses mit Wiederwillen und ofte schlecht, damit den Leüten die Lust vergehe, mich zu ihren Geschäften zu brauchen. Mein täglicher Seüfzer ist [→]o! rus quando ego te aspiciam, quandoque licebit duore sollicitae jucunda oblivia vitae; denn mein iziges Leben ist wirklich vita sollicita, aber gar nicht, wie man Ihnen glauben macht ein zerstreütes ausgelaßenes Leben. Des Morgens, Winter und Somer, stehe ich vor 5 Uhr auf. Bis nach 9 Uhr bin ich meiner selbst Meister. Dann geschieht es ofte, daß bis um 12 Uhr verschiedene Leüthe komen, Nicht mich zubesuchen, sondern Verrichtungen halber. Von 12 bis 1 Uhr besuche ich einen öffentlichen Plaz, wo ich mit einigen, so genannten guten Freünden spazieren gehe, und ofte bestelle ich Leüthe, die mich zu sprechen haben dahin. Dies sind meine Staats Visiten. Um 1 Uhr nehme ich mit meinen Kindern, sehr selten außer dem Hause, die einzige Malzeit ein, die ich des Tages genieße. Bisweilen bringe ich einen alten Freünd meines Hauses, ein Muster der Mäßigung in allen Arten, mit mir, weil er meine sparsame Tafel nicht verschmäht, dies sind meine häuffige Repas. Nachmittag gehe ich nicht mehr aus dem Hause, es sey denn, daß ein nothwendiges Geschäft mich wohin ruft. Selten komt jemand zu mir, es sey denn, daß etwa ein gewißer Freünd, wenn er hier ist, auf einem andern weg, zu mir auf eine Minute hereintritt. Des Abends speisen meine Kinder ohne mich, und um 9 Uhr lege ich mich zu Bette. Dieses ist seit etlichen Jahren meine prächtige Lebensart. Nur im Winter, wenn unser Adel nach der Statt komt und der Hof wieder hier ist, geschieht es, daß ich etwa einmal in der Woche, eins ins andre gerechnet, zu einem Mittag eßen eingeladen werde. Ich selbst kann und mag dergleichen Mittag Eßen, die einiger maßen unser Carneval ausmachen, nicht geben, und ich bin buchstäblich unter den Leüthen von meiner Art der einzige, der dergleichen in seinem Hause nicht thut. Ich habe eine einzige Magd, die zugleich Köchin, Haus Magd und Cammerjunfer (scilicet) ist und einen Bedienten, den ich zu den häuffigen Verschikungen brauche. Jene kann kaum eine Malzeit von Rindfleisch und Kohl bereiten, denn mehr braucht es bey mir nicht, und dieser kan nichts, als lauffen. Sehen Sie da mein Freünd ein wahres Tableau meiner Prächtigen Lebensart, und des großen Tones in welchem mein Haus gestimt ist. Vergleichen Sie dieses mit jenem prächtigen Gemälde und schliessen darauf auf die Einbildungskraft, die es entworffen hat.

Es ist in der That erstaunlich, wie eine Seele, so gar leer an richtigem Verstand seyn könne. Fast alles, was ich oder was meine Kinder aus derselben Quelle hören müßen ist von dieser Art, nämlich durch eine kindische Einbildungskraft verstellt, durch wizig seyn sollende Wendungen, außer die Gränzen der Vernunft gesezt.

Sie müßen Nicht glauben, daß ich zu diesem allen stillschweige. Ich habe erinnert, unterrichtet, vermahnt. Auch andre haben es gethan. Dem Scheine nach wird alles angenommen. Man findet alle Erinnerung richtig, allen Unterricht gründlich, man will allem Nachfolgen, aber dieses sind worte, die ihren Siz blos auf den Lippen haben, an denen die Seele keinen Antheil nimt. Weder ich noch die Freünde, die meine Umstände kennen, können begreiffen, woher seit einiger Zeit die Zufriedenheit mit sich selbst, die dem ehemaligen Heimweh so entgegen gesezte Lust hier zu seyn, ihren Ursprung haben. Freylich haben meine Erinnerungen keinen gebietherischen Ton, ich habe mehr Mitleiden, als Unwillen. Aber wenn etwas von Verstand in dieser gar zu weibischen Seele wär, so würde das wenige, was ich sage, nach seinem wahren Verstand gefaßt werden.

Izt will ich Ihnen sagen, was ich in diesen Umständen mir zu thun vorgenommen habe. Künftigen Sommer möchte ich in meinem Garten wohnen, daselbst alle Gelegenheiten zu Zerstreüungen, allen Vorwand zu Dingen, die mir nicht gefallen wegzunehmen, eine Probe von dem Leben zu geben, welches ich in meinem Haus eingeführt wißen möchte. Wenn ich noch einige Hoffnung übrig behalten habe, die aber gar sehr gering ist, so ist es die, daß die Sache selbst, meine Worte, die man nicht versteht, verständlich machen sollen, daß das Beyspiel vielleicht das verständlich machen werde, was durch Lehren nicht ist verstanden worden. Hilft dieses nichts, so bleibet mir nichts mehr übrig, als daß ich das, was man aus meinen izigen Reden und aus meinem Betragen nicht merken will gerade heraus sage. Aber die Selbstverblendung ist so groß, daß man schwerlich glauben wird, ich rede im Ernst, wenn ich gerade zu von Unvermögen entweder Kinder zu ziehen, oder ein Haus zu verwalten, spreche. Ich hätte bald vergeßen, Ihnen etwas zusagen, was einiger maaßen der Schlüßel zum größten Rätsel ist. Die beyden jungen Leüthe, nämlich der Bruder und der Vetter, sind die größte Ursache des Verderbens. Diese haben eine unumschränkte Eigenliebe in das schon an sich eitele Herz tieff eingepflanzt. Nichts ist läppischer und übertriebener und ausschweiffender, als die Lobeserhebungen, die diese Thoren an das göttliche Mädchen schreiben. Ich bin der glükseeligste Mensch, eine solche Person um mich zu haben, meine Kinder sind besonders vor allen andern durch die Vorsehung auserwählt, eines solchen Unterrichts zu genießen. Von dergleichen Zeüge sind ihre närrischen Briefe voll. Nun vernehmen Sie die Würkung davon. Im Anfang wurden mir solche ausschweiffende Briefe, als Lekerbißen zum Lesen ganz bescheiden überreicht. Zuerst machte ich Complimente, die nichts sagten, und hofte damit loszukommen; man fuhr fort. Ich sagte so schonend, als möglich war, daß mir die Schreibart dieser jungen Leüthe mißfiele, daß ich alles unnatürlich, und übertrieben fände, und überhaupt kein Liebhaber ausschweiffender Empfindungen seyn, wenn sie auch aus Freündschaft herkämen. Dennoch wurd mir auch nachher ein solches Schreiben zum Lesen überreicht, das ich zu lesen und sogar anzunehmen ausschlug. Man kam nicht wieder, aber man las sie in einem andern Haus vor, damit ich durch diesen Umweg Kenntnis davon bekommen sollte. Da dieses nicht helffen wollte, sann man auf List, (List, aber Kindische List ist der wesentlichste Zug in diesem seltsamen Charakter) Ich bekam solche Briefe, die man zuzusiegeln vergeßen hatte, durch Einschluß unter meiner Adresse. Hieraus, mein liebster Freünd können Sie urtheilen, in welchen Händen meine Kinder sind. Wenn ich nicht von ihrem guten Verstand, und ihrer von der besten Mutter angestamten natürlichen Güte ein Gegengift gegen gewiße Thorheiten erwartete, so würde ich nicht so lange Geduld haben. Ihr Naturell, mein Beyspiel und meine Vermahnungen, erhalten sie doch noch bey einem ziemlich guten natürlichen Wesen, und sie getrauen sich nicht so kindisch zu seyn, als das Beyspiel, was sie vor sich haben. Sie müßen dem göttlichen Mädchen, mit großer Ehrfurcht und unter tieffen Verneigungen die Hände küßen, denn dieses ist eine von den Sachen, die man ihnen vorzüglich beygebracht hat, aber ich glaube, daß sie selbst das Lächerliche hievon einsehen.

Diese weitläuftige Beschreibung, mein theürester Freünd, soll blos dazu dienen, daß Sie meine Umstände in ihrem wahren Licht sehen. Es wäre mir nicht lieb, wenn Sie gerade zu mich von meinem HausCreüz befreyen wollten. Die Anständigkeit erfodert, daß ich selbst es thue, so bald es nach meiner Art zudenken geschehen kann. Ich bin zwahr versichert, daß jene enzükte Jünglinge mich für einen Narren halten werden, daß ich den Werth eines solchen Kleinods nicht erkenne. Wollen Sie aber indeßen ganz von weitem, mit aller möglichen Verschonung einige Gemüther, auf das, was geschehen könnte vorbereiten, so sey es Ihnen anheim gestellt. Ich habe in der That Mitleiden mit dem Armen Mädchen, und wenn ich Sie von mir laßen muß, so werde ich suchen es auf die beste Art zu thun. Es ist ein wahres Unglük, daß sie meine Unzufriedenheit nicht merken will, weil ich sie nicht auf eine grobe Art merken laße, weil mein Tadel blos in Lehren und Anmerkungen besteht.

Ich habe mich solange bey dieser Materie aufhalten müßen, daß mir izt Zeit und Lust gebricht etwas anders hinzuzuthun.

Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der letzten Seite mit rotem Stift: »Hanc Epistolam ceteris amicissimi viri adjungi non decet« (Übers. »Diesen Brief zu den übrigen des freundlichsten Mannes beizulegen, ziemt sich nicht.«).

Stellenkommentar

Quis tullerit
Iuv. sat. II, 2, 127. Übers.: »Wer aber könnte die Gracchen ertragen, wenn die sich über einen Aufruhr beklagen?« (Juvenal, Satiren, 2017, S. 123).
Einrichtung der neüen Ritter Academie
Sulzer unterrichtete die aus dem Kadettenkorps rekrutierten adligen Schüler in Metaphysik und Moral.
mein Neveu
Salomon Brunner.
o! rus quando ego
Hor. s. II, 6, 62. Übers.: »in Stunden der Untätigkeit angenehmes Vergessen meines unruhigen Lebens zu schlürfen«. (Horaz, Buch 2 der Satiren, 2018, S. 169).
alten Freünd meines Hauses
Nicht ermittelt, welcher von Sulzers Bekannten hier gemeint ist.
Bruder und der Vetter
Julie Auguste Meisters Bruder Leonhard Meister und ihr Cousin Jacques-Henri Meister.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann