Brief vom 8. Mai 1764, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 8. Mai 1764

Berlin den 8 May

Gestern Abend hat Hr. Hugo mir ihren Brief eingehändiget, denjenigen aber, den Sie dem Hrn. Wyß oder Rahn mitgegeben habe ich noch nicht bekommen, weil diese Hrn. vermuthlich sich noch in Leipzig aufhalten. Sie haben weit richtiger über meine Gesinnungen in Ansehung des Hrn. Hugo, als über den Verzug der Herausgebung des Noah und der Trauerspiele geurtheilt. Wie war es doch möglich, daß Ihnen ein so wiedriger Verdacht einfallen konnte? Auf wen in der Welt werde ich mich verlaßen können, wenn ich nicht einmal von Ihnen versichert seyn kann, daß Sie meine Handlungen mit Freündschaft beurtheilen. Sie haben mir eine Wunde geschlagen, die nur meine Freündschaft und Hochachtung gegen Sie heilen kann. Ich habe Ihnen schon geschrieben, daß der Noah zu späthe angekommen um hier noch auf die Meße zuerscheinen. Vom Neü Jahr an sind unsre Preßen allezeit völlig besezt, bis auf die Meße. In Leipzig wär es angegangen, aber wem sollte ich in Leipzig den Noah anbiethen, da Reich ihn ausgeschlagen hatte? Je höher ich dieses Werk schäze, je empfindlicher war ich über diesen refus der mir eine Beschimpfung schien.

Eben so empfindlich war es mir, daß derselbe Man auch schon vor mehr als einem Jahr den Brutus nicht annehmen wollte, und daß er mir auch hier von einem andern wieder zurük geschikt wurd. Sollte es mich nicht schüchtern machen zusehen, daß Gellius in Leipzig mehr Credit hat als ich, und daß hier meine Empfehlung den elenden Critiken des Weise weichen mußte? Dieses hat mich so schüchtern gemacht, daß ich alle weitere Veranstaltungen, sowol wegen des Brutus, als wegen dem neüen Stük, dem Tode des ersten erschaffenen, fahren ließe. Ich bin zu stolz eines Buchhändlers Gunst zu betteln, und ihr Ruhm ist zu groß, als daß man einem unwißenden Menschen ein gutes Wort geben sollte, noch etwas zu seiner Ausbreitung zu thun. In dergleichen Sachen bin ich so sehr empfindlich, daß ich nur mit der größten Behutsamkeit verfahre. So kann ich es mit mir selbst schlechterdings nicht mehr dahin bringen, daß ich dem Reich den Brutus oder etwas anderes antrage, so gerne ich es sähe, wenn er von selbst es foderte.

Zudem sehen sie aus den urtheilen der Bibliothek und ich sehe es aus dem Beyfall den dieser elende Kunstrichter in Deütschland hat, daß ihre Trauerspiele gar nicht auf den deütschen Horizont paßen, wo die Charaktere und Gesinnungen, die in ihren Personen herrschen ganz unbekannte und chimärische Dinge sind. Urtheilen Sie hieraus, wie weit ich dieser Sache halber zu tadeln bin. In der Vorrede zum Noah, habe ich mich über Weisens Urtheile gegen ihre Trauerspiele erklärt und in meinem Wörterbuch noch viel ausführlicher. Können Sie durch Gellius erhalten, daß Reich ihr Verleger seyn will, so wird es mich freüen, nur bitte ich sie mir nicht zu zumuthen den Antrag selbst zu thun. Ich glaube nicht, daß ich mich entschließen könnte bey einem König zum zweyten mal eine Bitte einzulegen, die mir schon einmal abgeschlagen worden. Vielleicht ist kein Mensch gegen stolze, stolzer als ich. Der Noah soll unter die Preße so bald die Meße vorbey seyn wird. Füßli hat hier zu jedem Gesang eine Vignette entworffen. Sie sind so schön, daß ich nicht gerne sie mißen möchte. Er hat sie mit nach London genommen. Aber sein Verzug soll das Werk nicht aufhalten, eher sollen sie weg bleiben. Melden Sie mir bestimt, ob das Werk die Noachide, oder die Noachiden heißen soll. Das leztere Gefiel mir deßwegen beßer, weil das wort in dem Gedicht schon in dieser Bedeütung vorkomt. Aber es scheinet den Haupt Helden auszuschließen. Nimt man das erste, so ist seine Bedeütung, mit der Bedeütung deßelben Worts im Plurali genommen in einer Art von Wiederspruch. Noachide heißt ein Gedicht vom Noah und die Noachiden heißt die Familie des Noah. Lösen sie mir diese Schwierigkeit auf. Aber den Gedanken laßen Sie auf ewig fahren, daß ich jemals darüber sollte verdrießlich werden, wenn sie meine Meinungen oder Einfalle verwerffen. Kein Mensch ist darüber gelaßener als ich. Ich behaupte meine Meinungen so lange ich gründe dafür habe, und bin sehr gelaßen, wenn diese Gründe die Überzeügung nicht würken.

Ihr Vorschlag wegen der Jfr. Meisterin gefällt mir sehr. Ich muß Ihnen deßhalb meine Gedanken und Absichten ganz vor Augen legen und dann erwarten, was Sie thun wollen oder können.

Das erste, was ich wünschte ist, daß bey einer solchen Person der Verstand über das weiche der Empfindungen herrschte; dann auch bey weiblichen Herzen, muß etwas geseztes seyn, welches sie hindert den zärteren Empfindungen zu sehr nach zu hängen. Käme dazu ein merklicher Grad der Güte und Sanftmuth, nebst einer bestimmten Liebe zur Ordnung, so wäre die Person nach meiner Einsicht zu meinem Vorhaben ganz vollkommen. Ihr Geschäfte wären ohngefehr eben die, welche eine gute Mutter für ihre Töchter übernimt; sie um sich zu haben, sie arbeiten machen, mit ihnen sprechen, lesen, spazieren. Doch wünschte ich, daß sie zugleich eine allgemeine Besorgung der Haushaltung auf sich nähme. Finden Sie, daß bemeldter Person dieses anstehen würde, so überlaße ich Ihnen, das übrige mit ihr abzureden. Auf den künftigen Herbst, könnte sie herkommen.

Eben izt komt Hr. Wyß und bringt mir ihren Brief und Wegelins Dialogues. Ich werde mein möglichstes thun, jenen in ein gutes Haus zu bringen. Er scheinet ein ganz artiger Mensch zu seyn. Füßli schreibt mir aus London einen Brief, (den ersten) der mir offenbare Zeichen einer nicht angenehmen distraction hat. Kein Wort von der art, wie er auf unsre Recomendation aufgenommen worden, noch wie es ihm gefällt, noch von der Reise pp. Indeßen hat Millar an den Engl. Gesandten geschrieben, daß man alles versuchen werde ihn wol anzubringen. Der erste Versuch aber, ihn in daß Haus des Graven von Bute einzusezen, ist nicht gelungen. Ich kann mich drauf verlaßen, daß man ihn gut an die Hand gehen wird.

Lambert hat dem König nicht gefallen (dies unter uns). Es war mir zuwieder, daß er sich persönlich zeigen sollte, weil ich den Ausgang der Audienz vorher sah. Aber es war nicht zu ändern. Wir verliehren mehr, als eine Provinz, wenn wir diesen Man nicht können bey der Academie behalten.

Ich sehe aus den verschiedenen Urtheilen meiner Freünde, über mein neües engagement, daß einige mit dem Verstand, andre mit dem Herzen urtheilen. Es hat mich Mühe gekostet, alle die schönen Aussichten vor meinen Augen auszulöschen. Izt wende ich die Muße an mein Werk, und hüte mich vor aller andern Beschäftigung die den Verstand angreift, den ich ganz allein dazu nöthig habe. Es kommen viel Artikel vor, über die ich eben so studiren muß, als wenn die schwersten Fragen der höhern Geometrie auszumachen wären. Seit dem ich alle andre Meditationen völlig beyseite gesezt, wird der Tag in meinem Kopf, immer heller, und ich hoffe auch über die allerschwereste aesthetische Materien, doch noch etwas richtiges und nüzliches zusagen.

Grüßen Sie doch alle Freünde von mir.
Sulzer.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am oberen Rand der ersten Seite: »64.«

Eigenhändige Korrekturen

So kann ich
Ich So kann ich
und ich sehe
und aus ich sehe

Stellenkommentar

dem Hrn. Wyß oder Rahn
Vgl. die Briefe letter-bs-1764-03-27.html und letter-bs-1764-03-28.html.
refus
Übers.: »Ablehnung«.
den Brutus nicht annehmen wollte
Vgl. Brief letter-sb-1763-11-16.html.
Gellius in Leipzig mehr Credit hat
Vgl. Brief letter-sb-1763-11-16.html.
den urtheilen der Bibliothek
Siehe insbesondere die im Herbst 1763 erschienene anonyme Rezension von Bodmers Drama Julius Cäsar. In: Bibliothek der freyen Wissenschaften und schönen Künste 10, 1763, St. 1, S. 133–146.
In der Vorrede zum Noah
Nicht ermittelt.
in meinem Wörterbuch
Vgl. die Ausführungen im Artikel »Politisches Trauerspiehl« in Sulzers AT: »Vor einigen Jahren kamen in Deutschland nach und nach verschiedene dramatische Werke, unter dem Titel politischer Trauerspiehle heraus, davon die meisten unsern Bodmer zum Verfasser hatten. Ob sie nun gleich keine günstige Aufnahm erfahren, und so gar in einigen critischen Schriften derselben Zeit, deren Verfasser es sich zur Maxime scheinen gemacht zu haben, den Vater der wahren Critik in Deutschland zu verspotten, so gar verhöhnt wurden; so haben verschiedene Kenner ihren Werth, einiger darin vorkommender in der That unnatürlicher Ausdrüke ungeachtet, nicht verkennt.« (AT, 1774, Bd. 2, S. 913–916, hier S. 913).
zu jedem Gesang eine Vignette
Zu J. H. Füsslis Zeichnungen für Bodmers Noachide siehe den Kommentar zu Brief letter-sb-1764-02-07.html.
Hr. Wyß
Zu Hans Jakob Wyss vgl. Brief letter-bs-1764-03-27.html.
aus London einen Brief
J. H. Füssli an Sulzer, London, 17. April 1765. (Federmann Füssli 1927, S. 112–114).
an den Engl. Gesandten geschrieben
Brief des Verlegers Andrew Millar an Andrew Mitchell, 4. Mai 1764. Dem Schreiben beigefügt ist eine Auflistung der Auslagen für Füssli. Abgedr. in: Füssli Collected English Letters 1982, S. 4.
Graven von Bute
John III. Stuart, Earl of Bute, war einst Erzieher des englischen Thronfolgers Georg III. und nach dessen Thronbesteigung 1760 zu einem der mächtigsten Staatsmänner in England avanciert. Ende 1763 musste er allerdings wegen zunehmender politischer Konflikte zurücktreten. Stuart war für seine große Bildung und seine botanischen und physikalischen Interessen bekannt.
dem König nicht gefallen
Harnack berichtet in seiner Geschichte der Akademie vom unglücklichen Verlauf der Audienz. Als Friedrich II. Lambert die Frage stellte, welche Wissenschaften er am besten verstehe, antwortete dieser »alle«, und auf die anschließende Frage, wie er dieses Wissen erlangt habe, »gleich dem berühmten Pascal durch mich selbst«. Darauf entließ ihn der König ungnädig und weigerte sich ein halbes Jahr, Lamberts Wahl zum ordentlichen Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften zu bestätigen. (Harnack Geschichte der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1900, Bd. 1, S. 366). Erst am 10. Januar 1765 erfolgte die Berufung. Friedrich II. lernte Lambert später jedoch durchaus zu schätzen (vgl. ebd. S. 437–440).
mein neües engagement
Zu Sulzers Anstellung und Aufgaben an der Königlichen Ritterakademie vgl. Brief letter-sb-1764-03-03.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann