Brief vom 30. Mai 1762, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 30. Mai 1762

Magdeburg den 30 März.

Mein theürer Freünd.

Die günstige Veränderungen der öffentlichen Angelegenheiten, die uns einige Hofnung zum allgemeinen Frieden geben, halten mich gegenwärtig noch zurüke, mein Vaterland und meine Freünde wieder zusehen. Es ist mir sehr wichtig bey der ersten Ruhe, die ein allgemeiner Friede uns geben wird, nicht abwesend zu seyn. Ich muß das Verlangen meines Herzens der Hofnung künftiger Vortheile aufopfern. Indeßen habe ich mich für ein paar Jahre von meinen Amtsverrichtungen los gemacht. Seit sechs wochen lebe ich hier; in dem Garten, der Ihnen durch meine ehemalige Klage bekannt ist, in einer mir sehr angenehmen Ruhe, die ich nicht ohne guten Erfolg zur Ausarbeitung meines Wörterbuches anwende. Ich hatte mir die schmeichelhafte Vorstellung gemacht, diese Arbeit unter ihren Augen und durch ihren Beystand zu vollenden. Denn nur auf diese Weise, könnte ich sie am besten verrichten. Allein ich muß mich in die Zeit schiken, und abwarten, ob noch zulezt, ein günstiges Schiksal, mir erlauben wird, Ihnen dem besten Richter und Helffer, alles vorzulegen, ehe ich es dem Urtheil der Welt ausseze. Einige Nebenstunden habe ich ihrem Brutus gewiedmet, da Sie es mir erlaubt haben. Ich hoffe, daß ich nichts darin verderbe; meine Zusäze werden, so viel ich sehen kann, weder den Charakteren der Handelnden Personen, noch dem Eindruk des Ganzen schaden. Und die Verändrungen einiger Ausdrüke und Wendungen, werden das Stük der Sprache und der Mode, die man in Nebensachen immer bey behalten kann, angemeßener machen. Ihrem beßern Noah habe ich vergeblich entgegen gesehen. Ich tröste mich aber damit, daß ich ihn vielleicht desto eher unter der Preße hervor bekommen werde. Meiner Vermuthung nach, würde er jezo zu einer ziemlich gelegenen Zeit kommen, da der Geschmak sich hier und da wieder erholt, und viele, die sich an Kleinigkeiten gesättigt haben, nach etwas beßerm Verlangen. Wie wol noch Leüte genug sind, die den Homer, Sophokles und den Horaz mit den neüern die sich nach jenen gebildet haben, im Bücherschrank stehen laßen, da sie die Franzosen und die Schriften aus der Nicolaischen Schule auf ihren Tischen liegen haben. Geßner findet allgemeinen Beyfall, und bey so geringer Kenntnis des Vollkommenen, übersieht man seine Fehler gegen die wahre Vollkommenheit der Kunst, die er gewiß würde erreicht haben, wenn das Studium der Natur zu Hülffe gekommen wäre. Je weiter ich in meinen Untersuchungen, und Beurtheilungen aller Werke des Geschmaks komme, je mehr werde ich überzeüget, daß durch bloßen Trieb des Genies kein Werk des Geschmaks vollkommen wird.

Die Stellen in Wielands Vorrede zu der Samlung seiner Schriften, auf die ich am meisten aufmerksam gewesen bin, haben mich ziemlich befriediget. Ich wünschte aber, daß er in demselben Ton, womit er von seinen Gegnern spricht, sich etwas weitläuftiger eingelaßen hätte. Was wird denn aus seinem Herman werden?

Doktor Hirzels Kleinjogg hat mir über die Maaße wol gefallen. Der Titel des Sokratischen Bauers kommt diesem Man vollkommen zu, und ich wünsche sehr, daß der Doktor fortfahre ihn zu beobachten und ganz sein Xenophon werde. In Leipzig hat Weise Amazonen Lieder herausgegeben, die ich weit über Gleims Kriegeslieder seze. Es ist unbegreifflich, wie der Kopf, aus dem diese Lieder gekommen, in andern Dingen ofte so schlecht urtheilt und so schlecht schreibt. [→]Dieser ist es, der die Nachrichten und Urtheile über die deütsche Literatur nach Paris schikt, der so ein elendes Werk gemacht hat, als die Poeten nach der Mode sind.

Mit der Ausgabe der Karschischen Gedichte haben wir noch etwas inhalten müßen. Ich schike Ihnen hier die zweyte Anzeige und erwarte die Bestimmung der Anzal Exemplare, die Sie verlangen. Gleim hat diese Dichterin durch überhäufte und zu sehr übertriebene Lobsprüche verdorben. Sie ist so empfindlich über die Critik geworden, daß sie durch die Vorstellung weniger bewundert zu werden, selten mehr in das rechte Feüer kommt. [→]An dem Bruder des Prinzen von Preußen, werden die deütschen Musen künftig einen großen Beschüzer finden. Er liest das Beste mit Geschmak und großer Begierde, und hat mehr deütsche, als französische Bücher um sich herum liegen. Sein älterer Bruder, der nun zu Felde gegangen ist, giebt Hoffnungen, die man nicht ohne Rührung überdenken kann.

Aber was sagen Sie, und was sagt ihr Philokles zu der großen Erscheinung in der politischen Welt, zu Peter dem III? Wer hat beßer den Enthusiasmus des Philokles gerechtfertiget, als dieser? Wer hat Friedrichs große Neider und Verläumder mehr beschämt als er. Seine Hochachtung und Freündschaft für den König ist ganz außerordentlich. Er, selbst ein Heermeister viel großer Ritter, wollte nicht nur den Gelben Band des Preüßischen Ritterordens, als eine schazbare Zierde tragen, sondern so gar Friedrichs Soldate seyn. Er hat sich vom König ein Regiment Fußvolk ausgebeten, deßen Obrister er seyn will. Gestern wurd der geschlossene Friede dem Volke öffentlich kund gemacht. Ich hatte das Vergnügen an der Seite des jungen Prinzen Heinrichs, von deßen Palais die Abkündigung geschah, der Abkündigung beyzuwohnen und die lebhafteste Freüde eines ganzen Volks anzusehen. Man ist noch nicht ohne Hofnung, daß auch unsre übrigen Feinde sich zum Ziel legen werden. Schweden hat schon seinen Frieden gemacht, und die andern werden gegen uns und Rußland zu streiten haben, wenn sie sich länger weigern. Der König hat eine Große Macht seiner eigenen und rußischer Völker im Felde, und iezt nur noch gegen einen, oder nicht viel mehr, als einen zu streiten.

Der Hof wird bald wieder nach Berlin gehen, und alsdenn werde ich noch einsamer hier seyn, folglich noch mit mehr Fleiß arbeiten können. Es hat sich hier eine Gesellschaft junger Leüte zusammen gethan, welche sich im Geschmak üben. Sie sind aber noch etwas schwach und können sich keine Größere Kenner, als Ramler und Nicolai vorstellen. Einige waren neülich in meinem Garten versammelt und stuzten, da ich Ihnen sagte, daß ich diese Kunstrichter noch lange nicht für groß genug halte um Geseze zu geben. Ich stellte Ihnen vor, daß sie die Kenntnis des vollkommenen nicht an den Werken der deütschen lernen müßten. Denn dieser Maasstab sey gar zu klein. Ich rieth Ihnen das fleißige Studium der Alten, mit den ernsthaftesten Untersuchungen der Weltweisheit und andrer Wißenschaften zu verbinden. Ich warff es Ihnen, als etwas ungereimtes vor, daß sie Bodmer und Breitinger nur dem Namen nach und durch die Nachrichten der deütschen Monatschriften kennten.

Leben Sie wol mein theürer Freünd, und schreiben Sie mir nur nach Magdeburg, bis ich Ihnen von Verändrung meines Aufenthalts Nachricht geben werde.

Ich umarme Sie von Herzen. S.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Anonym Über Friedrich den Großen II 1807, S. 337–340 (Auszug).

Datierung

Falsche Monatsangabe Sulzers. Noch am 16. Februar und am 20. März 1762 schrieb Sulzer an Gleim aus Berlin (GhH, Hs. A 4154–4155), erst Anfang Mai aus Magdeburg (ebd. Hs. A 4156). Vgl. auch Bodmers Anmerkung »lego may« sowie einen Brief Anna Louisa Karschs aus Magdeburg an Gleim vom 7. Mai 1762, in dem sie schreibt, dass sie »den Garten besuchen [will] wo unser Freund wohnt«. (Nörtemann (Hrsg.) Mein Bruder in Apoll 1996, Bd. 1, S. 102).

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers unter dem Datum auf der ersten Seite: »lego may.« (Übers. »ich lese Mai«). – Vermerk Bodmers auf der ersten Seite unter Sulzer Frage »Was wird denn aus seinem Herman werden?«: »lego: Cyrus« (Übers.: »ich lese: Cyrus«). – Vermerk Bodmers am unteren Rand der letzten Seite: »accepi d. 15 Jun. 1762 non vidatur accepisse meam Epistolam d. 13. marty scriptam.« (Übers.: »empfangen den 15. Juni 1762 – es scheint als habe er meinen Brief vom 13. März nicht empfangen«).

Eigenhändige Korrekturen

etwas inhalten müßen
etwas anstehen inhalten müßen
Einige waren neülich
SieEinige⌉ waren neülich

Stellenkommentar

den 30 März
Siehe die Erläuterungen zur Datierung.
für ein paar Jahre von meinen Amtsverrichtungen los gemacht
Sulzer hatte in einem Schreiben vom 5. Dezember 1761 den Direktor Heinius und den Beirat des Joachimsthalschen Gymnasiums um Beurlaubung gebeten: »Da ich nunmehro seit 15 Jahren her dem Königl. Joachimsthalischen Gymnasio als Profeßor Matheseos nach meinen wenigen Kräften gedient und nunmehro meine Privat Umstände erfodern, daß ich eine Reise nach der Schweiz, meinem Vaterlande vornehme, wobey ich aber nicht mit Gewißheit voraus sehen kan, wie lange meine Abwesenheit dauern wird, so habe ich Ew. Exzellenz und meine Hochgebiethende Herrn hiemit unterthänig gehorsamst bitten wollen, mir zu erlauben, daß ich bemeldtes Amt in dero Hände wieder resignire um desto ungehinderter meine eignen Angelegenheiten besorgen zu können. Um aber Ew. Exzellenz und meinen Hochgebiethenden Herrn keinem wiedrigem Zweifel wegen der Absicht dieser Entschließung zu geben, so habe die Ehre heilig zu versichern, daß meine Absicht keines weges ist, dieses Land zu verlaßen um mich anderswo niederzulaßen. Außer meiner ehrlichen und gewißenhaften Versicherung des Gegentheils kann meine Absicht wieder zu kommen, daraus hinlänglich abgenommen werden, daß ich meine Kinder und mein Haus hier zurüke laßen werde. Deßhalb ich die feste Hofnung habe, daß Ew. Exzellenz und meine Hochgebiethende Herrn, in mein billiges Begehren gändig und hochgeneigt einwillen werden.« (BLHA, Rep. 32, Nr. 95). Der Antrag wurde am 9. Dezember 1761 bewilligt mit dem Vermerk: »Das Gymn: verliehret hierdurch eines gescheuten Lehrer so hier und auswärts berühmt gewesen.« (ebd.).
in dem Garten
Vgl. Sulzer, Ehrengedächtniß, 1761, unpag. Zum Aufenthalt in Magdeburg vgl. auch Hirzel Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen 1779, Bd. 2, S. 47 f. .
meine Zusäze
Sulzers Anmerkungen zur handschriftlichen Fassung des Marcus Brutus, die ihm Bodmer Ende 1761 geschickt hatte (Brief letter-bs-1761-11-00.html). Die Originalhandschriften des Dramas sind nicht überliefert.
Geßner findet allgemeinen Beyfall
Vgl. U. Hentschel, Salomon Geßners »Idyllen«, 1999.
Vorrede zu der Samlung seiner Schriften
Vgl. Brief letter-bs-1761-09-19.html.
aus seinem Herman
Wielands 1752 begonnenes Versepos Arminius wurde nie veröffentlicht. Sulzers Frage zielt wohl auf eine Neubearbeitung bzw. einen Druck des Epos in der Ausgabe von 1762. Bodmers Anmerkung »lego: Cyrus« ist missverständlich. Das unabgeschlossene Epos Cyrus erschien in seiner fragmentarischen Form in der Werkausgabe und eine Überarbeitung war nicht mehr zu erwarten.
sein Xenophon
Hier: Biograf. Vgl. auch Kommentar zu Brief letter-bs-1762-03-13.html.
Weise Amazonen Lieder herausgegeben
C. F. Weiße, Amazonen-Lieder, 1762.
Dieser ist es, der die Nachrichten und Urtheile
Anspielung auf die 1760 von Weiße herausgegebene Schrift Die Poeten nach der Mode. Ein Lustspiel in drey Aufzügen.
die zweyte Anzeige
[J. W. L. Gleim], Fernere Nachrichten von der Frau Karschinn und ihren Gedichten. In: Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen 2, 28. April 1761, St. 34, Sp. 273–280.
An dem Bruder des Prinzen
Zu Prinz Heinrich, der auch der Testamentsvollstrecker des verstorbenen Prinzen August Wilhelm von Preußen war, und seinem Verhältnis zu den Künsten vgl. Ziebura Prinz Heinrich von Preußen 1999, S. 126–190.
den Gelben Band des Preüßischen Ritterordens
Friedrich II. zeichnete den neuen Zar Peter III. mit dem preußischen Orden vom Schwarzen Adler aus und übersandte ihm die Insignien, die Peter gelegentlich sogar am russischen Hof trug (Leonard Reform and Regicide 1993, S. 146).
der geschlossene Friede
Preußen und Russland hatten bereits am 5. Mai 1762 einen Friedensvertrag geschlossen.
Schweden hat schon seinen Frieden gemacht
Der Friedensschluss zwischen Preußen und Schweden (»Frieden von Hamburg«) war am 22. Mai 1762 erfolgt.
Der Hof wird bald wieder nach Berlin gehen
Der Berliner Hof hielt sich während des Siebenjährigen Krieges mehrfach in der Festung Magdeburg auf, so auch 1761–62, wo Sulzer während seines dortigen Aufenthaltes engen Kontakt zu den Angehörigen des Hofes pflegte. Vgl. dazu Hirzel Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen 1779, Bd. 2, S. 17.
eine Gesellschaft junger Leüte
Die im Herbst 1761 gegründete Magdeburger Mittwochsgesellschaft.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann