Brief vom 15. Oktober 1751, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 15. Oktober 1751

Mein werthester Herr und Freünd.

Ich habe heüte durch Einschluß von Hrn. C. Geßner ihren Brief empfangen, der ein rechter Balsam war, dadurch mein Gemüthe, nach einem großen Kummer, mit milden Empfindungen erfüllet worden. Meine Liebste hat eine gefährliche und schmerzhafte Krankheit überstanden, die mich eine Zeit lange zu allen Verrichtungen untüchtig gemacht hatte. Heüte hat sie zum ersten male wieder gelächelt, da ich ihr eine Stelle aus ihrem Brief vorlas. Wollte Gott, daß ich könnte einmal einen Sommer mit ihr in der Schweiz zubringen!

Es ist unmöglich, daß ich versäumt ihnen die Ankunfft ihres Portraits zu melden. Ich wollte mich beynahe noch der Ausdrüke erinnern, deren ich mich damals in meinem Schreiben bedienet habe; denn ich schriebe in der ersten Hize der Freüde; und Kleist war eben hier. Ich sehe es nach meiner Frauen für die schönste Zierde meines Hauses an. Ich sage nach meiner Frauen, weil ich ihr Bild nicht unter die Todten Geräthe rechne; denn ich halte es werth genug es unter die dinge zu zählen, die in der leblosen Welt nichts haben womit man ihren werth abmeßen könnte.

Ich freüe mich ungemein über ihre Arbeitsamkeit, und insbesonder, da sie auf so angenehme und würdige Gegenstände gerichtet ist, und ich empfinde ein außerordentliches Vergnügen, wenn ich mir die Lust vorstelle, mit welcher Sie in ihrem einsamen Zimmer arbeiten und dabey die Thorheiten der Welt vergeßen. Ich wünsche mir kein höheres Glük, als eine so thätige und so angenehme Ruhe, wenn ich gleich mir dadurch keinen ewigen Nahmen erwerben sollte. Ihre Hize und ihre Freüde über die Arbeit, ist nicht die, die die einzige Belohnung der elenden Scribenten ist; der Nachtheil dieser Eil, hat auf ihre Gedanken keinen Einfluß und betrifft blos etwa das mechanische des Verses. –

Ich weiß nicht wie Hagedorn verlangen kann, daß wir die Lateinische Prosodie im deütschen Verse beobachten. Aber ich wollte diese Regel unverlezlich gehalten wißen, daß man im Vers die natürliche Quantität der Aussprache niemals verlezte, und eine genügsame abwechslung der Füße und des Abschnitts beobachtete, als denn würde mir der Hexameter sehr wolklingend seyn. Ramler bewundert immer den Vers

Meine Seele stieg ganz in meine danksagende Lippen.

seines Wolklangs wegen.

Ich habe eine ungemeine Ungeduld den Verbeßerten Noah zu sehen. Ich weiß daß Sie der armen Keicher lachen, die sich wieder die neüe Poesie auflehnen, und schike Ihnen also unbesorgt den Wurmsaamen, der von der eben so dummen als fruchtbaren Feder des armen Trillers soll gefloßen seyn. Es ist hier ein neüer Critikus aufgestanden, von deßen Werth Sie aus beyliegender Critik über den Meßias werden urtheilen können. Er scheint nur noch ein wenig zu jung.

Das Lob, welches Sie dem Verfaßer des Arminius geben ist mir sehr unerwartet gewesen. Ich habe die Schwachheit gehabt, dieses Gedicht zu verachten ehe ich es gesehen, und muß dabey ihre Anmerkung wieder holen, wie kann man so dumm und so klug seyn. Der Verfaßer ist wo ich nicht irre, einer vom Adel aus Sachsen, (Ich kann es allenfalls bald erfahren) und hat einem seiner hiesigen Freünde der mir die Confidence davon gemacht, geschrieben, er habe sein Gedicht Gottscheden zur Beurtheilung geschikt etc. Was habe ich daraus schließen sollen, insonderheit, da G. ihn ermuntert hat fortzufahren, mit dem Väterlichen Trost, er würde sich noch immer beßern.

Hr. Füßli thut Hr. Gellert sehr unrecht, und zeiget, daß er kein großer Menschen Kenner ist. Gellert macht sehr wenig aus sich selber. Daß er mit Berlin nicht zufrieden ist, hat ganz andre Ursachen, als die er meint. Denn es ist gewiß, daß dieser bey gut und schlechten Kennern beliebte Dichter, eine Art von Cour um sich hatte, als er hier war.

Ich halte von den Klagen der Cidlis beynahe das was Sie davon halten. Es wäre gut für eine Liebes Ode, aber es schikt sich nimmer mehr hieher. Es ist dem Verfaßer, wie er mir beynahe zugestanden hat, entgangen, weil er selbst von den Schmerzen der Liebe gedrükt ward. Das Gleichniß vom Philo wäre sehr schön, wenn es wahr und wenn es leichter ausgedrükt wäre. Die aisance dünkt mich in einem gleichniß ein wesentliches Stük. Hätte das Gleichniß von Jacob, von dem elektrischen drat diese Aisance so wie ich es wünschte, so wäre es eines der schönsten die ich jemals gehört. Es dünkt mich beym Gleichniß unerträglich, wenn man es zweymal lesen muß; und eben so wie ein wiziger Einfall den man wiederholen muß um ihn recht merklich zu machen.

Ich hoffe doch, daß ihre Verse, Von mir hat niemand das Blut p. aus einem ihrer größern Gedichte herausgenommen sind, und ich mache mir zum Voraus das zärtliche Vergnügen, sie auf ihrer original Stelle zu lesen. Ihr Herz muß recht mit dem meinigen, oder meines mit dem ihrigen im Unisono gestimmt seyn. Denn ich kenne keinen Dichter, der mir so ofte und so sanft eindringend ans Herze redet wie Sie.

Ich verbleibe

Meines werthesten Hrn. und Fr.
ergebenster Dr.
Sulzer

Berl. den 15 Oct. 51.

An Hrn. C. Breitinger und Hrn. P. Heß bitte mich bestens zu empfehlen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 160–165 (Auszug).

Einschluss und mit gleicher Sendung

G. E. Lessings Rezension Ueber das Heldengedicht der Messias.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der zweiten Seite: »Meine Seele mit danck geflygelt erhob sich zum himmel.« – Vermerk Bodmers auf der dritten Seite: »nicht Schönaichs, sondern Wielands Arminius, der unvollendet geblieben.«

Eigenhändige Korrekturen

in der leblosen Welt
in der ⌈leblosen⌉ Welt
es wahr und
es wahr wäre und

Stellenkommentar

Hrn. C. Geßner
Der Zürcher Naturforscher Johannes Gessner, der nach dem Studium der Medizin in Basel, Leiden und Paris und der Mathematik bei Johann I. Bernoulli, seit 1733 Professor für Mathematik und seit 1738 für Physik am Zürcher Carolinum war. Bereits 1738 erhielt er die Chorherrenwürde. Mit der Gründung der Naturforschenden Gesellschaft im Jahr 1746, deren Präsidentschaft er bis zu seinem Tod 1790 innehatte, förderte er in hohem Maße die naturwissenschaftliche Ausbildung in Zürich. Zu J. Gessner vgl. Boschung Johannes Gessner 1996. Mit Sulzer, der bei ihm während seiner Studienzeit am Carolinum Mathematik und Physik (Naturwissenschaft) hörte (ebd., S. 76 f.), verband Gessner eine langjährige Freundschaft. Gessner, mit dem Sulzer auch korrespondierte, scheint zudem das Vorbild für die Figur des naturkundlich bewanderten Lehrers Eukrates in Sulzers Unterredungen über die Schönheit der Natur, 1750, gewesen zu sein. Vgl. dazu Kittelmann Botanisches und gartenbauliches Wissen in Sulzers (Brief-)Werk 2018, S. 260 f.
schmerzhafte Krankheit
Neben Schmidt berichtet auch Ramler in einem Brief an Gleim vom Anfang Oktober 1751 von Sulzers kranker Frau: »Die hat eine schwere Brustkranckheit, das arme, liebe, junge Mädchen. Er sitzt Tag und Nacht bey ihrem Bette und tröstet sie und reicht ihr Artzeney.« (Schüddekopf (Hrsg.) Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler 1906, Bd. 2, S. 311).
den Vers
[J. J. Bodmer], Noah, 1750, S. 45.
Keicher
Andere Form von »Keucher«, auch »mürrischer Mensch«.
ein neüer Critikus
Gotthold Ephraim Lessing, der Ueber das Heldengedicht der Messias im Mai und September 1751 in Das Neueste aus dem Reich des Witzes sowie eine Rezension von Georg Friedrich Meiers Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias in der Berlinischen privilegierten Zeitung, St. 34, 20. März 1749, publiziert hatte. Lessing veröffentlichte im Sommer 1751 auch eine Rezension von Bodmers Syndflut in den Critischen Nachrichten, St. 27, 2. Juli 1751.
Lob, welches Sie dem Verfaßer des Arminius geben
Missverständnis Sulzers. Siehe dazu die handschriftliche, später eingefügte Bemerkung Bodmers an dieser Stelle: »nicht Schönaichs, sondern Wielands Arminius, der unvollendet geblieben.«
G.
Gottsched.
Klagen der Cidlis
Cidlis Klage im Messias, 1751, 4. Ges.
aisance
Übers.: »Leichtigkeit«.
das Gleichniß von Jacob
[J. J. Bodmer], Jacob und Joseph, 1751, 2. Ges., S. 33.
ihre Verse
Bodmer integrierte die Verse in: Joseph und Zulika, 1753, 2. Ges., S. 51.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann