Brief vom 12. Mai 1750, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 12. Mai 1750

Mein werthester Herr und Freünd.

Ich habe ihr lezteres Schreiben vor ein paar Tagen erhalten, und über die Späthe Reüe und Buße der Frauenfelder mehr gelacht, als mich davon erbaut. Das erste Gericht über Adam fiel mir dabey ein. Das Weib hat mich verführet. Allein weil Sie die Sache vergeßen wollen, so will ich weiter nichts davon sagen. Die ganze Auflage der 2 ersten Gesänge ist schon verkaufft. Jezo wird der dritte Gesang gedrukt, dem ich ein kleines Avertissement nebst ihren Zusäzen zu den beyden ersten beygefügt habe. In dem Avertiss. sage ich, daß ein Freünd, dem der Verf. seine erste Arbeit, so wie sie ihm aus der Feder gefloßen mitgetheilet, sich nicht habe überwinden können, das Vergnügen dem publico länger vorzuenthalten, das es seiner Vermuthung nach davon haben würde. Herausgeber des III Gesanges habe hernach eine Zweyte Abschrifft gesehen, die von der ersten in vielen Stüken abgehe, wovon er in den Zusäzen einige Proben gebe p. Ich sage ferner, daß ich erfahren, daß das Werk ganz fertig und nun unter der Polierfeile sey. Endlich gebe ich den Tadlern eine Wahrnung, sich nicht allzu leicht an einem Gedicht zu versündigen, daß (wie ich gewiß wiße) unsre besten Kunstrichter und Dichter Homeren, Milt. und Klopst. an die Seite sezen. It. daß sie sich in Acht nehmen, Sachen zu tadeln, die sie gerne wieder loben würden, wenn man ihnen hernach zeigte, daß Homer dieselbe oder ähnliche habe. Ich hoffe, daß alles dieses ihren Absichten nicht entgegen seyn wird. Auch dies nicht, daß ich dabey die Inhalte auf einen besondern Bogen druken laße. Sollte aber dieses leztere wieder ihre Absicht seyn, so wirds noch wol Zeit seyn mir es zu berichten.

Dieses Gedicht ist für mich, was der Meßias für Hrn. Pfr. Heßen. Deßwegen aber werde ich Sie nicht einen eingefleischten Seraph nennen, es ist mir viel zu lieb, daß unser einer so denken und schreiben kann, ich mag die Menschen solcher Ehre nicht berauben. [→] Ich suche dich nicht zu vergöttern, du zierst die Menschheit allzusehr. Ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß mir die welt, woraus Sie ihr Gedicht genommen beßer gefällt, als Klopstoks seine, wie wol seine erhabener ist und er eine, seiner Welt vollkommen würdige, Sprache führet.

Ich bin jezo daran eine recension vom Noah für die Bibliotheque germanique zu machen. Ich hoffe, daß ich mit Hr. Formeys Hülffe schon werde im Stand seyn, die Stellen, die ich anführen möchte zu übersezen. Es wird Ihnen doch nicht zuwieder seyn, daß sie dort mit Nahmen genennt werden.

Von Potsdam habe ich noch keine Antwort. Wenn Sie noch nicht Gelegenheit gehabt haben, ein Specimen von der Messiade in der Bibl. raison. zu geben, so könnte ich es in die bibliotheque impartiale einschiken, die in Holland herauskömmt und die auch Mr. Formey [→](infatigabilis scribans) verfertiget.

Wir haben vor ohngefehr 14 Tagen einem Züricher Nahmens Muralt nisi fallor, einem Chirurgo, Briefe und andre Sachen mitgegeben, die er versprochen, entweder selbst nach Zürich zubringen, oder Sie Ihnen von Basel aus zuzuschiken. Es reüte mich aber hernach, da ich erfuhr, daß er sehr langsam und über Frankfurth am Mayn reisen wird.

Hr. Schultheiß wird mit Hr. Steiner, einem meiner pensionairen künftige Woche verreisen, aber erst nach Hamburg, ehe er Klopstoken abholt. Ich bin beynahe bey ihrer Abreise so ungeduldig, als Japhets Brüder waren, da er ihnen von den Mädchen erzählt hat. Denn jezo könnte ich das Glück haben, das nach uns vielleicht keiner mehr haben wird, zween epische Dichter auf einmal zu sehen.

Mr. d'Arnault ist angekommen und man trägt schon Verse vom König an ihn und von ihm an König. Es sind ein paar Epigramen. Friedrich ladet ihn ein aus Frankreich zu kommen, seine Länder glüklich oder seine Unterthanen wizig zu machen. [→]Venés divinisés nos manans. Die Antwort habe ich wieder vergeßen, weil sie eben nichts enthält, das nicht ein alltäglicher Schmeichler sagen könnte. Nach und nach fangen unsre hiesigen Gelehrten an schwierig zu werden, da sie sich so offenbar verachtet sehen, und daß man sie für halbe Bären hält, die ein muthwilliger oder auch ein wiziger Franzose soll zu Menschen machen. Hr. Schuldtheiß wird Ihnen mehr umständliches von der hiesigen Situation der affairen des Reichs der Wißenschaften erzählen, als ich schreiben kann.

Ich weiß nicht ob ich schon in meinem vorigen gesagt, daß ich etwas gegen die sonst fürtreffl. Gedanken des dritten Gesanges ein zuwenden habe, da Sie Noah sagen laßen, er hätte des Beystandes seines Fr. nöthig um sich von wilden ausschweiffen p. Hr. Sak machte für sich eben dieselbe anmerkung.

Ich verbleibe mit zärtlichster Hochachtung

Ihr ergebenster Dr.
Sulzer

den 12 May 1750.

P. S. Diesen Augenblik, da ich ihren Brief wegschiken will, schikt mir Mr. de Maupertuis die Meßiade wieder zurük. Ich will Ihnen seinen ganzen Brief, so weit er dieses Gedicht betrifft hier abschreiben.

[→] J'ai reçu par Mr. de Kleist la traduction des deux premiers chants du Poeme, que vous avés eu la bonté de me communiquer, je vous en fais bien des remercimens. Il me paroit, qu'il y a du feu et des images dans ce poeme, qui ne me paroit pourtant, qu'une imitation de Milton. NB Il tire apparement ses principeaux avantages de la poesie, et du stile, dans lequel il est écrit; mais je doute fort, qu'il se soutint dans notre langue.

Ex ungue leonem. NB. Wenn Sie den Urheber dieses Briefs so kennten, wie ich, so würden Sie das kleine Lob, so er ihm beylegt, noch sehr vermindern müßen. Denn die franz. Höflichkeit tadelt nicht anders, als so. Ich wußte vorher, daß nichts mehrers herauskommen würde.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 144–148.

Anschrift

Herrn Joh. Jacob Bodmern Mitglied des großen Raths und Profeßor in Zürich

Vermerke und Zusätze

Vermerk einer dritten Schreiberhand auf der Nachschrift: »Zu dem Brief vom 12. Mai 1750«. – Siegel.

Lesarten

davon
daran

Stellenkommentar

ein kleines Avertissement
Sulzers Vorrede war unter dem Titel An den Leser des Herausgebers dem dritten, zunächst separat gedruckten Gesang des Noah (Frankfurt und Leipzig, 1750, S. I–VI) vorangestellt und wie der Brief datiert auf »den 12 des May 1750«. Vgl. dazu SGS, Bd. 7, S. 91–94 u. S. 345–349.
nebst ihren Zusäzen
Ebd. unter dem Titel Zusätze und Verbesserungen.
It.
Item.
Ich suche [...] allzusehr
Vers aus Hallers Ode Doris von 1732.
eine recension vom Noah
J. G. Sulzer, Noah, ein Heldengedicht. C'est-à dire, Noé, Poëme Epique. A Leipzig 1750. Die Übersetzung stammte von Formey. Vgl. dazu SGS, Bd. 7, S. 363 f.
Bibl. raison.
Bibliothèque raisonnée des ouvrages des savans de l'Europe erschien zwischen 1728 und 1753 in Amsterdam.
infatigabilis scribans
Übers.: »unermüdlicher Schreiber«.
Züricher Nahmens Muralt
Nicht ermittelt, vielleicht ein Angehöriger der Arzt- und Medizinerfamilie von Muralt, von der u. a. der 1733 verstorbene Anatom und Chirurg Johannes von Muralt Bekanntheit erlangte.
nisi fallor
Übers.: »wenn ich nicht irre«.
Hr. Steiner
Der junge, bei Sulzer in Pension stehende Winterthurer Hans Georg Steiner, der im Juli 1750 gemeinsam mit Klopstock, Schulthess und Sulzer in die Schweiz zurückreiste.
als Japhets Brüder
Vgl. [J. J. Bodmer], Noah Dritter Gesang, 1750, S. 3–6.
Mr. d'Arnault ist angekommen
Gemeint ist der Schriftsteller François Thomas Marie de Baculard d'Arnaud. Zu Friedrich II. und d'Arnaud, der einst ein Schüler Voltaires, mit diesem in dieser Zeit aber bereits zerstritten war, vgl. Kunisch Friedrich der Große 2012, S. 301–305. Vgl. zu d'Arnaud auch die Beiträge in den Critischen Nachrichten (Anhang vom Juni 1750, S. 257; Anhang vom September, S. 384).
Venés
Übers.: »Kommen Sie unsere Leibeigenen vergöttern.« Das Epigramm Friedrichs II. erlangte wie andere an d'Arnaud schnell Berühmtheit (Preuß Friedrich der Große 1832, S. 242).
Beystandes seines Fr. nöthig
Vgl. die entsprechende Stelle zu Noahs Freund Sipha in: [J. J. Bodmer], Noah Dritter Gesang, 1750, S. 26.
J'ai reçu
Übers.: »Ich habe durch Herrn von Kleist die Übersetzung der beiden ersten Gesänge des Gedichts erhalten, die mir mitzuteilen Sie die Güte gehabt haben; dafür danke ich Ihnen sehr. Es scheint mir, dass es viel Feuer und Bilder in diesem Gedicht gibt, welches für mich jedoch nur wie eine Nachahmung des Milton aussieht. Seine bedeutendsten Vorzüge bekommt es offenbar von der Poesie und dem Stil, in dem es geschrieben ist; ich zweifle aber stark daran, dass es sich in unserer Sprache verteidigen würde.«
Ex ungue leonem
Lat. Sprichwort. Übers.: »Den Löwen erkennt man an den Krallen«, das heißt, aus einem Teil auf das Ganze schließen.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann