Brief vom 27. April 1750, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 27. April 1750

vom 27 Aprill 50

Mein Herr und werthester Freünd.

Seit meinen lezten, das Sie über Winterthur werden erhalten haben, habe nun auch das andre Paket mit ihrem Schreiben erhalten, das schon das vorige Jahr geschrieben war. Weil ich erste jezo, aus einer Stelle dieses Briefs ihre eigentliche Meinung von dem ehemaligen Stand der Erde sehe, so muß ich vor allen Dingen einige Anmerkungen darüber machen. Sie sezen, wo ich nicht irre, daß die Axe der Erde und also auch die Axe des Himmels so gestanden, daß die Pole in der Sonnenbahn gewesen. Demnach ist in jenen Zeiten (wie auch Dan. Bernulli dafür hält) die Sonne nach ihrer eigenen Bewegung von einem Pole zum andern fort gerüket. Haben Sie auch wol die daher entstehende phænomena erwogen? Der Unterschied der Tage und Nächte wird dadurch viel größer als er jezo ist. Alsden ist kein Ort der Erde, der nicht alle Jahr wenigstens binnen 14 ganzer Tagen die Sonne immer gesehen, d. i. es sind Tage von 8–14 Tagen gewesen, da die Sonne niemal untergangen. Hingegen hat es auch Nächte von halben Jahren, und Tage von halben Jahren gegeben. Vier Monat des Jahres ist die Abwechslung eben so gewesen, wie sie jezo ist.

Wenn Sie auf diese dinge Acht gehabt haben, so wundert mich, daß sie eben diesen Lauff der Sonne dem andern vorgezogen, der Tag und Nacht gleichmachte, welches geschiehet NB. wenn die Ax der Erde auf der Fläche der Sonnenbahn recht aufgericht steht.

Ich erfahre aus Winterthur, daß man Sie nun dort als den Verfaßer des Noah kennt, und also werden Sie auch in Deütschland bald dafür erkannt werden. Ich habe es Hrn. Sak, Gualtieri, und einigen Freünden nicht länger verbergen können. Diese aber bringen es nicht außer Berlin. Ich habe von der Unschuldigen Liebe gleich Exempl. nach Halberstatt und Braunschweig geschikt.

Ich muß Ihnen doch einige Anmerkungen sagen, die Über das 3 Buch sind gemacht worden. Ich finde in den langen Reden der Noachiden, da sie ihre Cousinen zum ersten mal sehen etwas unnatürliches, oder eine übertriebene Naivete. Sollten sie wol beyderseits sich so lange ohne Action angesehen haben, und sollte Japhet, der sie schon gekannt, die Lange Rede seines Bruders mit angehört haben, ohne seiner Kerenhapuch ein wörtgen gesagt zu haben? Hr. Sak meint, daß der [→]Ausdruk aus der Zürcher Bibel Gott spazierte hier zu Lande etwas anstößiges habe, weil man des andern gewohnt ist, Gott wandelte unter Bäumen. Allein dies wird von keiner Erheblichkeit seyn: ferner meinte er, der Platonische Ausdruk, die redlichste Seele, die in den Körper gestürzt ist, sey wieder das Systema der Schrifft. Er verstund gestürzt passive nach dem Platonischen Lehrgebäude; Ich sagte, daß ich es für ein Activ halte. Die sich gestürzt i. e. gesenkt hat. Wir haben aber beyde einen Zweifel über einige Expressionen die Sie dem Noah in Mund legen, und die seinen Charakter zu befleken scheinen.

Meine Gedanken werden von seinen in Schranken gefaßet
Sich vor wildem Ausschweiffen mit leichterer Mühe bewahren.

Ferner dünkt uns wieder die Patriarchalische Einfallt, daß sie sagen Milca habe die Mädchen in Zimmer geführet, dahin kein Man kömmt p. In mehrerer Überlegung aber finde ich, daß es nicht nur angehet sondern Schön ist, wenn man sezet, daß blos die Bescheidenheit diese Zimmer so weit abgesöndert. Weil aber bey andern Völkern die Eyfersucht dieses gethan, so kan man sich nicht erwehren, daß einem nicht wiedrige Gedanken dabey einfallen.

Hingegen muß ich Ihnen auch sagen, daß Hr. Sak und überhaupt jederman, dem der Unterricht der Menschen und die Tugend am Herzen liegt, eine ungemeine Freüde über dieses Gedicht haben, und den Verfolg mit großer Ungeduld erwarten.

Ich habe mir vorgenommen, so bald es die vielen Geschäfte, die ich jezo habe mir zulaßen werden einige Briefe über dieses Gedicht in unsre Zeitung einzurüken, darin ich dieses Gedicht blos auf seiner Philosophischen und Moralischen Seite betrachten werde. Ich überlaße Hr. Ramlern es, als eine Poesie anzusehen. Hr. Formey hat mich schon vorläuftig gebeten, ihm eben so was von diesem Gedichte für die Bibliotheque germanique und impartiale zu geben, von denen beyden er der einzige Verfaßer ist.

Hr. Sak sagt im Spaß, aber auch halb im Ernst; er wünschte, daß Sie auch einen orthodoxen einen Z. Dechant in der Sündfluth ertränkten, von denen einen, die Hrn. Zimmerm. so viel Ungelegenheit machen.

Noch ein Wort von den Antediluvianern. Ich stoße mich an der Sache selbst nicht, daß Sie die neüern Sitten und Laster jenen zugeschrieben. Homer hat in der Odyßee ganze Länder versezt und einer Nation die Charakt. einer andern zugeschrieben, ohne, daß ich mich daran gestoßen habe. Aber ich wünschte, daß Sie mehr den neüern ähnliche Nationen, als accurat eben sie selbst in die Sündfluth gebracht hätten. Es dünkt mich, daß man bey Lesung des 2ten Buchs dieses denken sollte, „da sehen wir, daß die Laster und Thorheiten der heütigen Welt, jener alten den Untergang gebracht p p.” Anstatt, daß wir, wenigstens ich, und noch mancher so denken „die Völker, die der Verfaßer vor der Sündfluth sezet, haben ja erst hernach gelebt, nur sein satyrischer Kopf sezt sie dorthin pp.” Ich weis nicht, ob ich meine Meinung deütlich genug ausdrüke. Wenigstens gestehe ich Ihnen, daß ich noch jezo, einige von ihren antediluv. Nationen nur deßwegen für unwahrscheinlich und dem Buchstaben nach erdichtet halte, weil ich mir immer sage, dies sind ja Franzosen p. Es kömmt mir vor, daß Ich anstatt eines portraits das Original selber sehe, und ich will jezo nicht das original, sondern blos das Portrait sehen. –

Ich lege Ihnen hier blos meine Empfindungen vor, ohne mich anzumaßen, recht zu haben. Mich dünkt, daß Miltons Exempel hier nichts gegen mich beweist. Ein anders ist eine allusion auf eine Geschichte, ein anders die Geschichte selbst. Ich sage Ihnen nur deswegen frey, woran ich mich stoße, damit Sie desto gewißer werden, daß ich das Schöne würklich empfunden und Ihre Arbeit nicht aus Freündschaft gelobet. So sehr ich Sie hochachte, so werde ich durch diese Hochachtung nicht verblendet. Mein Urtheil ist so frey, als es seyn würde, wenn ich den Verfaßer nicht kennte. –

Werden wir die Inhalte bald unsern Blättern einverleiben dürffen? Mich verlangt darauf. Der Plan dünkt mich fürtrefflich ausgedacht (Nur fürchte ich hier und da vom Cometen was unangenehmes) und ich freüe mich schon im Geiste auf die Gemälde des Engels, auf den Tod des Sypha, der aber nicht schöner wird seyn können, als der Todt Mehethabeels (In parenthesi muß ich Ihnen eine expression meines Freündes, des Hrn. Gualtieri sagen. Da ich die Stelle von der M. Todt laß, ruffte er, [→]oh! pour cela, on en sent la beauté jusqu'au bout du doit.) Den Abschied der Frauen von ihren Gärten. Den Harmonischen Einzug der Thiere in den Kasten. Die Aufwekung der 2 jüngstertrunkenen p.

Der Hr. Dr. Hirzel hat mit seinem Gedicht meine Erwartung übertroffen. Was soll ich von Hallern sagen, und seiner so sehr affektirten Verachtung der Poesie? Macht er es etwa, wie die, die sich unten ansezen, um desto höher zu kommen?

Ich werde Spenern sagen laßen, daß er 2 Exempl. der Crit. Nachrichten in Leipzig einem Kauffman giebt, der sie Ihnen mit bringe, ich ersuche Sie eines davon nach Winterthur zu schiken.

Ich verbleibe

Ihr ergebenster Dr. Sulzer.

Noch ein paar worte vom Pygmalion. Ich bitte mich der Sprachfehler wegen zu entschuldigen. Ich zweifle, daß sie von mir herkommen. Die Bogen wurden in meiner Krankheit gedrukt, und jeder von meinen Freünden, der mich besuchte corrigirte dran, weil ich weder Kräffte noch Lust hatte es durchzusehen. Daher können wol verschiedene Orthographien und Grammatiken darin herschen.

Vor ein paar Tagen ist Mr. D'Arnault hier angekommen. Ich habe das Mst. vom Meßias noch nicht wieder, weis auch noch nicht wie es Mr. de Maupertuis gefallen hat.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 134–141 (Auszug).

Anschrift

Herrn J. J. Bodmer, Mitglied des großen Raths und Profeßor in Zürich.

Eigenhändige Korrekturen

in der Odyßee ganze
in der Ilias Odyßee ganze
der heütigen Welt
jenerder heütigen⌉ Welt
gelebt, nur sein
gelebt, Es will nur sein
ich ersuche
ich bitt ersuche

Stellenkommentar

wie auch Dan. Bernulli
Sulzers und Bodmers Landsmann, der Physiker und Mathematiker Daniel Bernoulli, war seit 1746 Auswärtiges Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften und mit Leonhard Euler eng befreundet. Vermutlich bezieht sich Sulzer hier auf Bernoullis von der Academie Française preisgekrönte Schrift zu den Gezeiten Traité sur le flux et le reflux de la mer.
langen Reden der Noachiden
[J. J. Bodmer], Noah Dritter Gesang, 1750, S. 1–18.
aus der Zürcher Bibel
Ebd. S. 27. Gemeint ist die Zürcher Bibel von 1531, die nach dem Verleger Christoph Froschauer auch Froschauer Bibel genannt wurde. Die erwähnte Passage bezieht sich auf die Stelle in Genesis 3, 8: »Unn sy horted die stimm GOTT des HERREN der sich erspaziert im Garten«.
für die Bibliotheque germanique
Vgl. Sulzers anonyme Rezension Noah, ein Heldengedicht. C'est-à dire, Noé, Poëme Epique. A Leipzig 1750 in der von Formey herausgegebenen Nouvelle bibliothèque germanique, 1751, Bd. 8, S. 407–417. – Bd. 9, S. 172–181. Sulzers Rezension ist vollständig abgedruckt und übersetzt in SGS, Bd. 7, S. 114–136. In Formeys Bibliothèque Impartiale, die von 1750–1759 erschien, ist hingegen keine Besprechung von Bodmers Noah zu finden.
Z.
Zürcher.
Hrn. Zimmerm. so viel Ungelegenheit machen
Bodmers Jugendfreund Johann Jakob Zimmermann, seit 1731 Professor für Naturrecht und Kirchengeschichte am Zürcher Carolinum und Wegbereiter der theologischen Aufklärung in Zürich, war schon als Student der Heterodoxie verdächtigt worden. Beeinflusst von deutschen, französischen und englischen Autoren plädierte er für »Bescheidenheit im Blick auf theologische Geltungsansprüche und Forderungen nach deren Allgemeinverbindlichkeit« (Opitz Aspekte und Tendenzen der theologischen Diskussion in Zürich 2009, S. 179). Zimmermanns Karlstagsrede von 1741 löste eine polemische Kontroverse aus und brachte ihm ein Disziplinarverfahren wegen des Verdachts der Häresie ein. Sulzer tauschte sich u. a. auch mit Johann Caspar Lavater intensiver über Zimmermann aus (vgl. ebd.) und stand mit ihm in brieflichem Kontakt. U. a. machte Sulzer die Akademie, insbesondere Formey, mit Zimmermanns Werken bekannt, wie ein Brief Sulzers an Zimmermann vom 2. Mai 1749 zeigt: »Mich wundert sehr, daß E Hochwürden noch keine Nachricht von der an Hr. Formey überschikten Dißertat. bekommen haben. Ich habe ein paar mal davon sprechen hören, und weiß, daß sich einige Hrn. beklagt, sie hätten dieselbe schon ofte vergeblich von Hrn. Formey abgefodert. Es ist überhaupt zu merken daß nicht allemal die beste Ordnung in der Academie herrscht.« (ZB, Ms Car XV 82).
meines Freündes, des Hrn. Gualtieri
Samuel Melchisedek de Gualtieri, der 1749 die ersten vier Stücke von Sacks Vertheidigtem Glauben der Christen ins Französische übersetzt hatte (Pockrandt Biblische Aufklärung 2003, S. 39), gehörte zu den engsten Freunden Sulzers in Berlin. Ob ihn Sulzer noch aus Magdeburg kannte, wo Gualtieri bis 1744 Prediger war, bevor er zweiter Pfarrer der französisch-reformierten Kirche in der Berliner Friedrichstadt wurde, ist nicht bekannt.
oh! pour cela [...] doit
Übers.: »Oh! in der Tat spürt man deren Schönheit bis in die Fingerspitze.«
von Hallern sagen
Vermutlich sind hier allgemein Hallers Kritiken in den Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen, deren Direktor er ab 1747 war, gemeint. Wenige Tage nach Sulzers Brief erschien hier am 30. April 1750 eine Rezension von Kleists Frühling (S. 349). Zu Hallers Rolle im Literaturstreit vgl. auch Guthke Hallers Literaturkritik 1970.
Spenern
Der Berliner Verleger und Buchhändler Johann Carl Spener.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann