Brief vom 30. April 1746, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 30. April 1746

Mein Herr und sehr werther Freünd.

Ich will, wie Sie es haben wollen alle Complimente gegen ihnen beyseite sezen; so werden Sie mir auch eher Glauben zustellen, wenn ich ihnen sage, daß mir dero leztes Schreiben vom 19 März ein recht großes und ungewohntes Vergnügen gemacht hat. Ich fange an etwas mehr auf mir zu halten, als bis dahin, wenn ich sehe, daß Männer von ihrer Art mich ihrer Freündschafft würdigen. Zwahr was das Herz anbelangt, so glaube ich ohne mir zu schmeicheln, daß ich mich unter die ersten Freünde in der Welt zählen kann. Aber giebt es nicht in der Freündschafft neben Sachen, die wichtiger sind, als die Hauptsache, das Herze selbst. Mich dünkt, daß die Fabel von dem Gärtner und seinem Freünd dem Bären dieses lehret. Da ich aber einmal ein Freündschafftliches Herz habe, so will ich das übrige von Ihnen und andern solchen Freünden lernen.

Da ihnen die Beschreibung meiner Abentheüerlichen Reise gefallen hat, so will ich keinen Anlas vorbey gehen laßen mich in solchen Erzählungen zu üben. Sie haben ganz recht daß meiner Beschreibung das Bild eines Stuzers en detresse fehlt. Aber ich habe kein Urbild dazu gehabt. Sie ließen sich damals in Leipzig nicht sehen.

[→]Nisi forte unus tacite protulit é domo caput

wie die Fröschen beym Phædrus. Man sah’ in Leipzig kaum jemand, als Soldaten und Gesinde auf den Straßen.

Gelehrte Abentheüer sollen mir wol noch aufstoßen. Wenn ich ein wenig mehr Zeit hätte ihnen nachzugehen, so würde ich sie Hauffen weise antreffen. Wir haben einen elenden Poeten hier in Magdeburg, der zwahr ein angesehener aber zum dichten sehr ungeschikter Mann ist. Er heißt Stokhausen, und hat schon einen diken Band Theatralische Stüke druken laßen, jezo hat er Todes Gedanken unter der Preße, die er wie ich aus einigen Umständen vermuthe jemanden vom Hofe dediciren will. Wo er das thut, so soll es ein gutes Abentheüer seyn, und ich werde auf ihn los gehen. Er ist ein ungleich schlechterer Dichter als Gottsched. Hier aber haben wenig Leüt Verstand genug ihn zu verachten.

Aus den Stüken wieder Hr. Gottsch. und Zinke, werden Sie meinen guten Willen mehr sehen, als meine Geschiklichkeit. Ich habe den Brief des Cantor Tillmans im bloßen Spaß geschrieben, wozu mir der Anlas gegeben worden, da ich mit Langen und Gleim an einem Abend hier in Gottsch. Gedichten gelesen und wir uns fast todt gelacht haben. Ich hoffe, daß Sie mit meiner Vertheidigung der Vorrede zu den Freündschafftl. Liedern werden zufrieden seyn. Wenn ich gewußt hätte, daß es ihnen nicht zu wieder wäre, so würde ich mich wegen des Reims tieffer in die Materie eingelaßen haben, obgleich die Absicht nur war die Vorrede zu vertheidigen – Der Verfaßer der Recension ist, wie ich gehört der M. Kästner in Leipzig, Zinks Jonathan. Neülich hat Zink die Gellertschen Fabeln mit großen Lobeserhebungen recensirt. Er ist doch ein sehr zweydeütiger Mensch in Ansehung des Geschmaks.

Wie werden Ihnen die Freündschafftlichen Briefe gefallen? Gleim hat hineingesezt und verworffen, was er gewollt hat, meine Vorrede hat er stark castrirt, er meinte ich hätte allzu bescheiden von dieser Samlung gesprochen. Die Briefe, welche Sie die gütigkeit gehabt zu überschiken, dienten zu unsrer Absicht nicht, ich erwarte sie von Gleim wieder zurük. Es ist zu viel poetisches in der Prosa dieser Briefe. Das Herz spricht selten so. Doch glaube ich, daß sie gut werden aufgenommen werden, und in diesem Fall könnten wir ein andermal etwas beßeres liefern.

Für den Sittenmaler bin ich Ihnen überaus Verpflichtet, ich bildete mir viel darauf ein, da ich ihn schon hatte, da verschiedene Andre noch so sehnlich danach verlangten. Ich muß bey diesem Anlas Ihnen im Vertrauen sagen, daß ich auch eine Wochenschrifft angefangen habe, die aber nur für das FrauenZimmer allein bestimmt ist, um ihnen einen guten Geschmak für alle schönen und wolanständigen Sachen zu machen. Ich werde mich nicht entschließen diese Schrifft druken zu laßen, bis sie ihre Gutheißung hat. Jezo habe ich erst einige wenige Stüke fertig und keinen Abschreiber, sonst wollte ich was zur Probe überschiken. Auf ein andermal. Indeßen bitte mir zu dieser Arbeit geneigten Beytrag. Ich denke Sie haben meine absicht gefaßt.

Wäre es nicht rathsam, daß man des P. Rapins Comparaisons d’Homere & de Virgile, de Pindare et d’Horace übersezte oder wenigstens neü auflegte? Neülich habe ich in dem 40 Theil der Biblioth. Francoise einen hübschen Versuch von dem Stylo gelesen. Der Verfaßer verspricht eine Continuation. Ich möchte gerne die neüern Rhetoricos lesen. Was hat man für welche die gut sind? Ich werde, wie ich mir schon seit einiger Zeit vorgenommen mir besondere Mühe geben alle Arten des Styli kennen lernen und critisch-philosophische Untersuchungen anstellen um zu zeigen, was für eine Denkungsart ein jeder erfodert. Mich dünkt, daß die Rhetoric auf Hohen Schulen und Academien gar zu sehr versäumt wird. Deßwegen hat man so wenig gute Stilisten.

Wundern Sie sich nicht M. H. daß ich noch kein Wort von der Ambassade gesagt, davon Sie in ihrem Brief sprechen? Jezo, da ich das andre, was ich Ihnen schreiben wollte, gesagt habe, komme ich auf dieses, comme pour la bonne bouche. Diese Gesandschafft ist der schönste Einfall den ich vielleicht mein Lebenlange gehört oder gelesen habe. Wie wollten wir diese That durch ewige Lieder verherrlichen! Was für FestTage sollten alle wizigen Köpfe hiesiger Gegend haben! Sie werden sich ja laßen beym Wort nehmen. Ich meiner seits mag eine so süße Hoffnung nicht zerstören. Ich sehe die Sache vor gewiß an. Die Umkosten der Ambaßade wollen wir auch helffen tragen. Denn so bald der Gesandte einen Fuß in Sachsen sezt, so soll er frey gehalten werden, bis er wieder im Reich seyn wird. Mich dünkt es soll nicht schwer seyn, das Geld zusamen zu bringen. Wer das baare Geld nicht geben will, der muß, wie Sie wol ausgedacht schreiben, daß der Buchführer für ihn bezahlt. Ich dächte es wäre beßer u. für diesen Gebrauch weit anständiger, wenn man lauter Bücher Geld dazu anwenden würde. Ich meiner seits habe einen Traktat von 18 Bogen fast ganz fertig, der soll uns was einbringen, Lange muß Oden machen, ein andrer was anderes. Ich ersuche Sie die Sache ja nicht zu vergeßen.

Von Gleim schreibe nichts, weil er mir geschrieben, daß er es selber thun wolle. Ich werde übermorgen Abend bey Langen in Laublingen seyn, aber nur auf eine Nacht, weil es kein Besuch seyn soll, da mich was anderes, als die Freündschafft für ihn hintreibet. Vielleicht schreiben wir von dort aus noch zusamen. Ich verharre mit der größten Hochachtung und Freündschafft

Mein Herr und sehr werther Freünd

Ihr gehors. Diener
JGSulzer.

Magd. den 30 Aprill 1746

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am linken unteren Rand auf der letzten Seite der Nachschrift: »habe ihm im Jun. 1746 geantwortet.«

Eigenhändige Korrekturen

zum dichten
zum dichten
Zinks Jonathan
Zinks Nathanael Jonathan

Stellenkommentar

Fabel von dem Gärtner
Die Fabel L'ours et l'amateur des jardins (Der Bär und der Gartenfreund) von Jean de La Fontaine, in der ein Bär eine Fliege von der Stirn seines schlafenden Gärtnerfreundes mit einem Steinwurf vertreiben will und dem Gärtner so den Schädel einschlägt.
Nisi forte
Nach Phaedr. Fab. I, 2, 17: »Forte una tacite profert e stagno caput«. Übers.: »Einer etwa hebt schweigend den Kopf aus dem Teich hervor«.
einen diken Band Theatralische Stüke
Heinrich Christian Ludwig Stockhausen publizierte im selben Jahr Heilige Todes-Betrachtungen Nebst einer verläufigen Dissertation Vom Rechte des Grabes, auf die Sulzer hier anspielt. Bereits 1720 und 1721 hatte Stockhausen die Schauspiele Zenobia von Palmyra und Vladislav und sein blutiger Untergang bei Varna veröffentlicht.
Stüken wieder Hr. Gottsch. und Zinke
Zu Sulzers und Langes Beantwortung der Critick, über Thirsis und Damons Freundschaftliche Lieder, welche in dem 200ten Stück des Hamburgischen Correspondentens vom Jahr 1745 anzutreffen ist, die eine Reaktion auf die anonym erschienene Kritik Abraham Gotthelf Kästners in dem von Barthold Joachim Zinck redigierten Correspondenten war, vgl. SGS, Bd. 7, S. 1–21 u. S. 263–284. Lange hatte die Reaktion ursprünglich im Hamburgischen Correspondenten »wollen bey drucken lassen« (Lange an Bodmer, 14. April 1746, ZB, Ms Bodmer 4.2), was ihm allerdings verwehrt wurde.
Brief des Cantor Tillmans
Sulzers unter dem Pseudonym eines fiktiven Gottsched-Lesers verfasster Brief Andreas Tillmans, Küsters zu Perlingen, Schreiben/ An Se. Hochedelgeb. Magnificenz, Den Herrn Prof. Gottscheden in Leipzig erschien im Rahmen von Langes 1746 veröffentlichter Schrift Denckmal der seltenen Verdienste um gantz Deutschland, welche Ihro Maginificenz und Hochedelgebl. Herr Johann Christoph Gottsched, öffentl. Lehrer der Weltweißheit und Dichtkunst zu Leipzig besitzet. Vgl. SGS, Bd. 7, S. 22–69 u. S. 287–326.
M. Kästner
Zu Abraham Gotthelf Kästner, 1746 zum Professor der Mathematik in Leipzig ernannt, vgl. auch Kommentar zu Brief letter-bs-1746-12-06.html.
Zink die Gellertschen Fabeln
Christian Fürchtegott Gellert wurde im Hamburgischen Correspondenten durchgängig gelobt. Vgl. dazu Gellert Briefwechsel , Bd. 1, S. 314.
Freündschafftlichen Briefe
[J. W. L. Gleim, S. G. Lange, J. G. Sulzer], Freundschaftliche Briefe, 1746. Vgl. zur Entstehungsgeschichte: Ahrens Die freundschaftlichen Briefe 2018. Ein Exemplar der Freundschaftlichen Briefe (vermutlich jenes, das Sulzer mit dem Brief vom 5. Januar 1747 nach Zürich übersandte) ist in Bodmers Bibliothek erhalten geblieben (Vgl. Brief letter-sb-1747-01-05.html und ZB, Sign. Gal Ch 151).
Sittenmaler
J. J. Bodmer, J. J. Breitinger, Der Mahler Der Sitten, 1746.
eine Wochenschrifft
Der Mädchenfreund. Die Wochenschrift kam allerdings nicht zustande. In Bodmers Mahler der Sitten, auf den Sulzer hier eingeht, nehmen Lektüren und Lesegewohnheiten bzw. Lesebedürfnisse von Frauen (Bodmer nennt sie seine »Freundinnen«) einen beträchtlichen Teil ein.
hübschen Versuch von dem Stylo
Anonym, Reflexions sur le Stile. Par Mr. de ***. In: Bibliothèque Françoise, ou histoire littéraire de la France, Bd. 11, Teil 2, 1745, S. 217–262.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann