Brief vom 27. März 1772, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 27. März 1772

Mein liebster Sulzer.

Meine augen triefen seit ein paar Monathe so sehr, daß ich sie schonen muß. Ich habe sie 70. jahre mit grosser anstrengung gebraucht und ich bin Ihnen den Umgang mit tausend alten und neuern Verstorbenen und lebenden schuldig. Ich hoffe sie noch in erträglichem zustand zu erhalten, bis ihre Theorie vollendet ist. Aber eilen sie doch so viel sie können. Ich spare für dises werk alle stärke, die mein gesicht noch übrig hat. Sie können sich nicht vorstellen mit welchem Raptu unser Dr. Hirzel von demselben spricht. Aber ich muß auch noch ihr Drama sehen. Ich habe mir den Kopf zerstört um zu errathen woher sie das Sujet genommen haben. Wenn es ein griechisches, ein römisches ist, wie haben sie es doch zurichten können, daß sie hoffnung haben dem berlinischen parterre damit zu gefallen? Denn sie sind zu großmüthig, als daß sie ihm zu gefallen, wie Marmontel, Racine und Corneille selbst Weiberliebe, heutigen Wiz, heutigen Staat und heutige Grösse angebracht haben. Und kann eine gewöhnliche deutsche seele griechische und römische Grösse fassen? Die ungewöhnlichen machen keine Zahl. In Berlin doch sollte man sich einen helden vorstellen können, der nicht auffahrisch ist und nicht brauset. Ich bin nicht zufrieden, wenn sie mir dises Drama nicht durch die erste gelegenheit schiken.

Ich habe Adelberte von Gleichen zu einem stück gemacht, welches izt in Ihrem gerichte bestehen mag. Aber was sagen sie zu der gräfinn von Gleichen? Das ist doch etwas nationales, und mehr national als Klopstoks Hermannsschlacht. Was haben unsere Deutschen mit den cheruskischen Iroquesen gemein?

Eben so patronymisch ist der Conradin. Diese zwey stücke sind von dem Herausgeber sehr zerhakt, und beynahe gekreuzigt worden.

Der Karl von Burgund hat kein Aufsehen erhalten. Ich habe keinen Berner ein Wort davon reden hören. Ich halte den Patroklus würdig, daß der verf. der Theorie ihn sehe. Aber hiesige Tryphons verwerfen ihn. Meine prose und meine poesie stinken sie an.

Sie haben Brechters Anmerkungen über Basedows Elementarbuch, und die biblischen Erzählungen gedrukt. Brechter machet dem Basedow ungeheure Complimente und schlägt hernach auf ihn zu. In den biblischen Erzählungen wird in deutsch übersezt, was in der Bibel jüdisch gesagt wird. Das Werk ist Kindern gewidmet, und doch orientalisch.

Fragen sie ihren professor Müller, was für ein ding im Werk sey, betitelt: Souvenir für den Nachtisch meiner Freundin.

Unter der presse liegt der Anfang von dem Catechismus der Menschheit. Ein werk, das einzig aus Fragen besteht, die sich selbst beantworten.

Wissen sie nicht wie Klopstok es bekömmt, seitdem der Hr. von Bernsdorf gestorben ist? Irren wir hier wenn wir den König von Dänemark für einen Knaben ansehn?

Hier leiten Hr. stadthlt. Ott und Hr. sekelm. Landolt die CC. Sie haben dieselben beynahe beredet, daß wir von den ramsischen Gütern die Dominicalsteuern nehmen sollen. – Damit man diese Östreich nicht bezahlen müßte, hatten wir den erstern en embassade nach Wien geschikt, und in starken memoires bewiesen, daß Östreich das Recht nicht hätte so zu besteuern. Aber sie sagen wir haben Östreich sein Recht abgekauft; wir hatten ihm doch nur seine prætensionen abgekauft. Der Dr. Hirzel hat so laut gegen dise Herren geschrien, daß man ihn unter dem Helmhaus hören mochte. Er ist schier der Einzige, der für die Republik ein warmes Herz hat. Und dises ist so selten, daß man sagt er habe ein böses maul, wenn er die offenbarsten Wahrheiten laut sagt. Dann predigt man ihm Mässigung des Affektes.

Der Verf. der die Launen geschrieben hat das Souvenir für den Nachtisch seiner Freundin geschrieben. In diesem stük ist mehr morale und weniger Überfluß von Wiz.

Unser Bürkli arbeitet an einem drama in Diderots Geschmak, das sehr charakterisch ist. Ich denke, es würde der Kochischen Gesellschaft und dem berlinischen parterre besser gefallen als alle Carls von Burgund und alle Patroklus. Ich glaube doch daß Patroclus von Ihnen, mein liebster, bearbeitet den preussischen militaires gefallen sollte. Es sind in meinem Stük auch FrauenZimmer Iphis, Diomede, Briseis, aber die Handlung drehet sich nicht um den weiblichen Angel. Die Starkin möchte wol als Iphis erscheinen, aber Achilles Koch müßte in den Augen eines Preussischen Kriegers ärgerlich seyn. Ich hatte in gedanken Ihnen dieses Sujet zu empfehlen, ich dachte lang nach, wie sie vermuthlich es behandeln würden; ich warf meine Einfälle auf ein Papier, und so entstand unversehens das Drama. Concepi et peperi.

Leben sie munter, mein liebster Freund, ich müßte aufhören Bodmer zu seyn, wenn ich nicht mehr wäre

Ihr Ergebenster.

Zürch den 27sten März 1772

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »27 März 72.«

Eigenhändige Korrekturen

in Diderots
vonin⌉ Diderots

Stellenkommentar

was sagen sie zu der gräfinn von Gleichen
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1771-02-16.html.
der Conradin
Bodmers Conradin von Schwaben ein Gedicht mit einem historischen Vorberichte wurde 1771 im Verlag von Michael Macklot in Karlsruhe publiziert.
Tryphons
Häufig verwendete Bezeichnung Bodmers für »Verleger«. Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1747-09-12.html.
die biblischen Erzählungen
[J. J. Hess/J. C. Lavater], Biblische Erzählungen für die Jugend, 1772.
Souvenir für den Nachtisch meiner Freundin
[L. Meister], Souvenir für den Nachtisch meiner Freundin, 1772.
Anfang von dem Catechismus der Menschheit
Nicht ermittelt. Eventuell handelt es sich dabei um Johann Georg Schlossers anonym publizierten Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk, 1771.
Hr. von Bernsdorf gestorben
Zu Bernstorff, der am 18. Februar 1772 in Hamburg verstorben war, vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1770-12-00.html.
König von Dänemark für einen Knaben
Christian VII. von Dänemark, der als geistesgestört galt.
leiten Hr. stadthlt. Ott und Hr. sekelm. Landolt
Johann Heinrich Ott und Johann Heinrich Landolt.
Verf. der die Launen geschrieben
[L. Meister], Launen der Muße, 1770.
Unser Bürkli arbeitet an einem drama
Johannes Bürkli. Ein von ihm verfasstes Drama aus dieser Zeit konnte jedoch nicht ermittelt werden. Bürkli machte sich später u. a. als Herausgeber von Anthologien wie Schweitzerische Blumenlese, 1780–1783, einen Namen.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann