Brief nach dem 23. März 1766, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: nach dem 23. März 1766

Ich habe ihnen mein theuerster Zeit gelassen sich von ihrer Krankheit zu erholen, und Gott wolle daß sie dieselbe recht wol gebraucht haben neue Munterkeit und stärke zu sammeln. Seitdem ist die Meisterinn angekommen und wieder verreiset, mit der Dame, deren Mund sie seyn soll, nach Bourdaux zu gehen. Sie hat viel dankbares von ihnen gesagt, insonderheit bey wakeren leuten; bey andern mag sie von ihren schweren Geschäften groß gesprochen haben. Sie ist noch mehr Pamela zurükgekommen als sie zuvor war. Ihr Oncle hat ihr nicht geschont. Sie hat nach Bourdeaux müssen, weil sie niemand zur dame haben wollte. Meisters des Cammerers sohn ist in Paris, in dem Haus einer liebenswürdigen Frau; er schrieb seinem Papa an dem dritten Tage nach seiner ankunft in Paris: Je tacherai, d'être ce que je dois être, sans me gendarmer contre le ton du siecle, qui est certainement beaucoup plus sage qu’il ne le paroit. Sein Vater antwortete darauf: Oremus.

Er hat in Lyon Füßli gesehen und giebt ihm das Zeugniß daß er sich recht waker aufführe. Ich habe ihm durch ihn die Noachide geschikt; ich hoffe daß er sie vor dem Unglük behüten werde, welches die Messiade und den Abel in London betroffen hat. Er weis daß ich seinen Verleumdern am meisten widerstanden, und ich habe sein Herz; dennoch habe ich seit ein paar Monathen nichts von ihm. Aber Lavater hat eine Klopstokische Ode von ihm, in welcher er viel Religion zeiget. Die Karschin hat mir ein Lied und ein Handbriefchen geschikt, wovon der Inhalt war, daß ich ihr eine Noachide geben sollte. Ich will ihr im Herbst mit einer Calliope aufwarten, unter welchem Titel meine kleinern Epopäen unter der presse sind, wiewol nicht so niedlich als die Noachide.

Ich habe in der Lage ihres Landhauses einen grossen fehler entdeket, daß er nicht auf dem Zürcherberg steht, den ich in disem Zimmer, in welchem die Noachide empfangen ward, im Gesicht habe.

Hr. Chorhr. Geßner hat von dem jungen Euler, daß der grosse Euler mit keinen Ehren in der Academie habe bleiben können. Aber er hat nicht gemeldet, was für Beleidigung er empfangen habe. Ich hoffe, seine person kann der Academie nun durch Lambert ersezet werden. Über unsers Wegelins Zufriedenheit bin ich der Zufriedenste. Wir haben mit grosser mühe das münster gerettet, daß es nicht geschleift und an seiner stätte eine ⟨Bauerschachtel⟩ gebaut worden. Doch konnten wir nicht verhüten, daß nicht auf die alten thürme seltsame Cupolen gesezt würden.

Der pfarrer Ziegler von St. Jacob hat gegen Toblern von Ermatingen, Lavater, Felix Hessen – eine anklage von socianisme und Pelagianisme formieren wollen. (Man sagte, er wäre des Antistes und Pfr. Ulrichen Waffenträger.) Diese haben sich aber mit Macht gewehrt, und Ziegler hat retractirt. Unser Waser sollte ihnen von dieser tracasserie schreiben. Der Antistes hat im Synodus und hernach ein paar Geißfüsse stark hervorguken lassen.

Zug hat ein Manifest publicirt, in welchem es aus seinen protocollen zeiget daß die Rathsglieder, die man abgesezt oder verjagt hat, das salz das Frankreich den andern Orten giebt, in Geld haben verwandeln lassen, und das Geld als ein besondre gratification für sich behalten. Dem Volk ward vorgegeben daß der König wegen Mißvergnügens das salz zurükgenommen hätte.

In kurzem kann ich ihnen die Acta von Schinznach senden, die mehr in gutem Willem als in Handlungen bestehen. Hiesige gnädige Herrn lieben diese Gesellschaft nicht, man hält sie für Grübler, die neuerungen im sinn haben oder veranlassen könnten. In Bern hasset man sie, und es könnte noch leicht eine Verfolgung über sie kommen.

Vermuthlich haben sie ein Buch gesehen, Verbal d’experts, nouveau sisteme da jurisprudeme introduit dans la Ville de Berne. Der Autor ist Deporte ein Edelmann aus dem pays de Vaud, der von Bern exulirt worden und izt eine vornehme Officierstelle bey dem Prinz Statthalter bedient. Er beschuldiget Bern schwarzer Ungerechtigkeiten, und Bern hat nicht besser als durch den Henker refutirt. Sinner, der izt Venner und Mediateur in Genf ist wird häßlich mitgenommen, den wir doch als einen der rechtschaffensten Berner kennen. Es ist der Sinner, in dessen Haus Wieland gestanden war.

Die Citoiens von Genf stehen zwischen Furcht und Hoffnung, doch ist die Furcht grösser. Man sagt die Mediatores denken nicht gleich, doch der erste von Zürich und der zweite von Bern, der andere von Zürich und der erste von Bern denken gleich genug. Beauteville ist der prævention unterworfen. Es ist wunderbar wie ungeachtet der Verschiedenheit der Humeurs und Charakter die Citoiens allemal von einem und demselben Geist beseelt scheinen, wenn es um einen allgemeinen schritt zu thun ist. Diese Einigkeit machet den Chefs viel Ehre und desolirt den Magistrat. Sie haben mit grosser müh erhalten daß man ihnen commissaires erlaubt hat, und man darf die Commissairs nicht deputirte nennen. 3. bis 400 wollten, man sollte 900. und alle die nicht so reich noch so unterwürfig sind wie sie für einen haufen brouillons ansehen. Man darf nicht mehr sagen, das volk sey der Souverain. Diser begriff heißt ein Sarcasmus, tüchtig die ganze Welt übern Haufen zu werfen. Der Magistrat hat die Representanten als Calomniateurs angeklagt. Diese haben die Mediateurs gefraget, in welcher Absicht sie die Invitation des kleinen Rathes angenommen, das Reglement von 1738 zu garantieren? – Das von niemand war verlezt worden. – Man hat nichts gethan, als Representationen gemacht, und dazu berechtiget das Reglement. – Man hat den Magistrat nicht gehindert, daß er die Edicte nicht nach seinen begriffen executirte.

Man leget den Representanten zur last, daß sie eine pure democratie haben wollen. Ich denke sie wären mit einigem Wahlrechte zufrieden. Aber der Magistrat will eine pure Aristocratie haben. Und in Bern herrscht der begriff, daß ohne dise keine ordnung, keine seligkeit ist. Es ist offenbar daß die Constitution von heute nicht die Constitution in dem Ursprung der Republik war; und offenbar, daß die erste von der gemeinde angeordnet ward. Wer hat die Veränderungen eingeführt? Gewiß die gemeinde nicht. So gemessen die schritte der Citoiens sind, so sind doch ihre Herzen voll Feuer. Ich fürchte wenn sie ihrer alten Rechte beraubt werden, daß sie irgend etwas gewaltthätiges vornehmen, welches dann die Hauptsache würde, dann würde Frankreich oder Bern Truppen anrüken lassen. Wir müßen auch aufbiethen und dises würde bey uns grosses Mißvergnügen verursachen.

Unsre schulverbesserungen warten auf die Wiederkunft Hrn sekelm. Heideggers.

Ich habe sie, mein Liebster, nur zu oft nöthig, mein Herz vor ihnen zu entfalten, und neuen Muth zu fassen. Unser Waser dient mir hierzu mehr als kein anderer. Ich umarme sie und Wegeli und Spalding.

Bo.

Überlieferung

H: Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Eigenhändige Korrekturen

welchem Titel meine
welchem Titel ich meine
Constitution in dem Ursprung
Constitution vonin⌉ dem Ursprung

Stellenkommentar

Pamela
Anspielung auf die Dienerin Pamela, die Hauptfigur in Samuel Richardsons gleichnamigen Roman.
Meisters des Cammerers sohn ist in Paris
Jacques-Henri Meister, der Sohn von Johann Heinrich Meister, hielt sich 1766 bis 1767 in Paris auf. Dort lebte er ab 1769 im Exil, nachdem seine Schrift De l'origine des principes religieux in Zürich verurteilt wurde. 1772 söhnte er sich mit seiner Vaterstadt Zürich aus, kehrte aber nicht dorthin zurück. Übers.: »Ich werde trachten, zu sein was ich sein soll, ohne mich gegen den Ton unserer Zeit aufzubringen, der sicherlich viel weiser ist als es scheint.«
ein Lied und ein Handbriefchen
Anna Louisa Karschs Billet vom 24. März 1766 an Bodmer, das sie mit den Worten schloss: »Ich bitte mir von Ihnen nur noch Ihr Andenken, und bey irgend Einer Gelegenheit die neue Ausgabe des Noha, ich bin mehr alß mein kurzes Billet sagen kan«. (ZB, Ms Bodmer 3.3).
Geßner hat von dem jungen Euler
Nicht ermittelt. Eventuell handelt es sich hier um ein Schreiben von Eulers Sohn Johann Albrecht Euler an Johannes Gessner.
ein Buch
A. Steiger u. a., Verbal d'experts, 1765.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann