Brief vom 6. März 1763, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 6. März 1763

Wie sehr bin ich für ihre Entfernung von uns getröstet, da sie die würdige gesellschaft bey sich haben, einige der besten von unserer stadt. Indem Sie diese um sich haben, so haben sie an ihnen keinen geringen theil von mir selbst bey sich. Gleich izt stell ich mir sie vor, wie sie mit großen Gedanken dem rechtschaffenen Wägelin die verfolgung versüßen, die ihm die nicht verstandenen religiosen gespräche drohen. Hätte er mit Gegnern zu thun, welche die Waffen des Geistes, der lebendig machet, ehreten, so wär ich ohne Besorgniß für ihn. Aber wird er auch gegen den fleischlichen Arm bestehen mögen! Welcher schade, wenn sein Geist durch diese gewaltthätigen Hohenpriester so eingezwänget würde, daß sein Lycurgus und andere gute stücke darüber in den schlamm fallen müsten! Mich verlanget sehr von diesem geschäfte etwas gründliches zu vernehmen.

Aber izt geh ich mit ihnen zu dem philosophen in den Alpen; ich fühle die schmerzen, die ihr Abschied mir verursachet ganz leicht, durch den gedanken, welche verjüngung Ihre gegenwart in dem gemüthe dises lieben verehrungswürdigen Greisen erschaffen muß. Was für freuden in seinem herzen springen indem er ihre Erscheinung genießt, die hüpfen durch die Sympathie unserer gemüther zugleich in dem meinigen. Ich habe den gottseligsten den rechtschaffensten mann, der mir in meinem ganzen leben bekannt geworden, in der förenen hütte des doctors angetroffen, und eben diser vortreffliche mann war sein vater. Und dieser sohn war dieses vaters würdig. Wenn ich die unschuldigen tage denke, die ich dort gelebt habe, wo ich die thränen über den verlust meiner Kinder getroknet habe, so segne ich dem Altemann, dem Camor, und dem niederen Gaberius und den thälern und tobeln darunter entgegen. Aber die förene hütte ist izt nicht mehr auf der vorigen stelle, sie hat einem palast weichen müßen, und glücklich ist sie nicht zerstöret sondern nur aufgelöset, nur versezet worden. Ich zweifle nicht sie werden die Achtung für sie haben daß sie sich an den Ort, wo sie izt noch demüthig steht, hinführen laßen, damit sie unter das dach eingehen, unter welchem zween männer gewohnt haben [→]derer einer das land mit Gesezen und sitten der andere mit arzneyen versorget, und beyde den dank der Welt dafür empfangen haben. Dennoch liebe ich dieses land und dieses volk um der beyden willen und habe keine ungestümere begierde, als noch einmal über diese siebenfältigen Tobel zu gehen. Aber izt würde ich einsam und von dem Führer verlaßen darüber wandeln müßen; philocles würde mich nicht mehr auslachen, daß ich so weit hinter ihm zurückbliebe, wenn er ποδας ὠκὸς wie Achilles oder ein steinbok über die berge sprang. Seine sehnen sind schlaf geworden, und die schloße an seinen Knien sind abgesprungen; Aber der Geist hat seine völlige stärke behalten und beweiset die unabhänglichkeit der seele.

Ruhig, still und zufriedenes lächeln, von Gram nie verdunkelt flißen von seinem Antliz herab und erheitern die stunden; Immerhin blühet der Geist, ein erforscher verborgener weisheit.

Welchen ecstatischen brief wird er mir schreiben, wenn sie wie der Zephir auf seinen papillonsflügeln vor ihm werden vorüber geflogen seyn!

Unsere gnädigen Richter triumphiren daß sie eine schöne that nicht strenger als durch ein leeres Mißfallen geandet haben. Sie fodern darfür unser lob mit vollkommener Überzeugung. Ich habe etwann geglaubt sie dächten, es stühnde beydemal gleich in ihrer gewalt, welchem theile sie recht sprechen, oder ein geschenk geben wollten.

Aber sie sehen wol daß ich mehr um des vergnügens willen das ich im schreiben empfinde, so viel seltsames Zeug schreibe als in der beredung Ihnen damit vergnügen zu machen. Ich trage meine belohnung im schreiben dahin, und schmeichle mir kaum, daß sie mich lesen werden. Leiden sie mein geschwaz, wie sie das klatschen des fuhrmanns und das geraßel des Rollwagens leiden müßen. Dieser betäubenden Antiphonæ will ich izt weichen. Fahren Sie sonder Anstoß.

Ihr Ergebenster Bo.

den 6ten März 63.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »6 März 63«.

Eigenhändige Korrekturen

philosophen in den Alpen
philosophen ⌈in⌉ dern⌉ Alpen
versorget, und
versorget haben, und
unser lob mit vollkommener
unser lob ⌈mit⌉ vollkommener

Stellenkommentar

dem Altemann, dem Camor, und dem niederen Gaberius
Gaberius steht für den Gäbris, eine Anhöhe über Trogen. Vgl. zur mythologisch anmutenden Benennung der Berge des Appenzeller Landes auch Bodmers Ode »An Philokles« (Bodmer, Critische Lobgedichte und Elegien, 1747, S. 133–136).
nicht mehr auf der vorigen stelle
Zellwegers altes Holzgiebelhaus, seine »Förene Hütte«, war wegen des Neubaus des Palastes seines Neffen Jakob Zellweger-Wetter vom ursprünglichen Standort (heute Landsgemeindeplatz 1) an den Rand von Trogen versetzt worden, wo es heute noch steht.
derer einer das Land
Conrad Zellweger war in der Appenzeller Politik erfolgreich aufgestiegen: Im Anschluss an eine Ratsherrstelle war er 1698 Hauptmann, 1704 Seckelmeister und 1721 Statthalter von Appenzell Ausserrhoden geworden. Laurenz Zellwegers politische Karriere scheiterte hingegen früh und ab 1734 betrieb er nur noch seine Arztpraxis. Vgl. Brief letter-bs-1758-12-02.html.
ποδας ὠκὸς
Übers.: »eiligen Fußes«. Homerischer Ausdruck für die Geschwindigkeit des Achilles.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann