Brief vom 13. September 1747, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 13. September 1747

Monsieur le professeur,
Mein werthester Herr und Freund.

Ich saß vergangenen Samstags tout isolé bey der mittagstafel, als ich von Hn Schultheiß die nachricht von ihrer Beföderung empfieng. Alle meine Gliedmaßen verspürten darüber eine plözliche Bewegung wie einen schauder, der dadurch fuhr. Ich hatte sonst geglaubt, daß nur das schreken sich durch eine solche schauernde Erschütterung erzeigete. Es war ohne Zweifel bestürzung, ich hatte alle hoffnung verlohren, daß es Ihnen gerathen würde. Daher entstuhnd das Versgen,

Daß Sulzern eine Kanzel dreymal fehlet;

welches zu meinem grösten vergnügen durch Ihre promotion izt verderbt ist. Es war aber schon gedrukt, und konnte nicht mehr geändert werden wiewol das stük der freymüthigen nachrichten, darinnen es steht, erst heute publicirt wird. Wollte Gott, daß die darauf folgende Zeile bäldest eben so wol der falschheit bezüchtiget werden könnte! Wie lange soll ich noch klagen daß

Gleim unbefödert lebt, der hundert Gönner hat.?

Sonst, wie die Kanzel Ihnen dises mal nicht gefehlt hat, so weis ich daß sie noch viel weniger der Kanzel fehlen werden. Ich erwarte viel gutes von ihrer künftigen anwesenheit in Berlin, und ihrer beywohnung bey so wakern, und geschikten männern, wie Maupertuis, Euler, Sak, Gleim, p. sind; denn es ist nicht möglich daß sie alle ihre künftigen stunden der Mathesi widmen; und dise selbst wird unter Ihren händen eine so annehmliche Gestalt bekommen als sie bey ihrem Ernst nur haben kann. Ich halte es vor keine geringe Condecoration Ihrer Beföderung, daß solche durch den starken Vorschub eines mannes von den verdiensten des Hr. de Maupertuis geschehen ist. Ich bin glüklich mit meinen Freunden, die ihr Vaterland ausgestoßen hat; Hr. Samuel König, als er vor drey Jahren ins Exilium wanderte, nahm einen Abschied von mir, der mir mächtig zu herzen gieng, wiewol er selbst, aus einiger desperation, wie ich glaubte, dabey ganz kalt war. Allein man hat ihn dem Glük entgegen gejagt, er hat die Gnade des Prinz Statthalters in hohem Grade und jüngst war das geschrey, daß der Prinz ihn in England habe reisen lassen. Izt habe ich an Ihnen den zweyten professor an der Fremde.

Nach demjenigen, was sie mir in confidenza von der station bey Hr. Bachmann gemeldet, mag ich sie Hn pfarrer Heer von Azmoos nicht belieben; Wenn aber Hr. Bachmann resolvierte, an Ihrer Statt einen andern Informator seiner Söhne anzunehmen, so bitte mir, oder Hn Kirchenschreiber, der Hn Heer noch besser kennt als ich, umständlicher zu melden oder melden zu lassen, was Hr. Bachmann für officia von einem fodert, und was für trost, oder besserung einer bey ihm findet. Ihre beföderung möchte zwar den Hn. Heer aufmuntern, als ob sie eine folge von ihren diensten bey Hr. Bachmann wäre, aber ich kan ihn darüber schon das gewissere verständigen.

Ich habe ein buch unter dem Titel gesehen Theorie où science des sentimens agreables; es ist zu Genf gedrukt, der Autor wird nicht genannt, soll aber kein Genfer seyn, sondern ein Pariser, Hr Vernet hat eine Vorrede dazu geschrieben. Wären hier Exemplare davon zu finden, so hätte ich Ihnen eines geschikt. Der Autor hat Shaftburi fleißig gelesen. Ich muß das werk auch Hn professor Meyer bekannt machen, welchem es zu seiner Æsthetik einigermaßen dienen kan; es ist vil Gründlichkeit darinnen, aber nicht so viel, als sie oder Hr. Meyer einer solchen Materie mittheilen könnten.

Sie werden sehen, daß am Ende des Schreibens vor der Duncias den Bernern ein stich versezet worden. Gottsched hat ihnen 1741. den siebenden Band seiner beyträge zur Critischen Historie dedicirt, und sie haben ihm hingegen den Brachmann zugeschrieben. Dise Bernische deutsche Gesellschaft ist und bleibt statua taciturnior. Schwarze hat eine Ode auf den Wein, und die Liebe, die er geschmidet, für Lamprechts Arbeit ausgegeben, und ein stük, das Lau aus der Aeneis übersezt hat, hat er vor ein Werk empfohlen, welches in Bodmers und Breitingers Schreibart geschrieben wäre; beyde dinge hat Zunkel von Regensburg verlegt; darum sage ich

Wie Schwarze Lamprecht ist, so sey Lau Bodmer.

Ich habe gute lust künftig die Duncias mit deutschen dunces auszufüllen, wofern mir nur meine leute einen reichen vorschlag von den bestverdienten machen wollten.

Mir fällt ein, daß sie in dem Mädchenfreund die Idee von der platonischen liebe mit glüklichem Erfolge brauchen könnten, in welcher Petrarcha so vortrefflich gewesen. Ohne Zweifel kennt man den Petrarch zu Berlin. Vor 10 od. 12. Jahre hat ein Regolotti den Theocritus sehr gut italienisch übersezt. Ich habe ihn beschrieben. Vielleicht dient er zu dem Mädchenfreund. Der Hr. Georg Schuldheiß hat den Musäus verdeutscht, aber ein wenig hart, und ich fürchte, daß man ihn mit eben so leichter Arbeit von neuem übersezen könnte, als man seine Verdeutschung verbesserte.

Ich habe erst wahrgenommen, das der Hr. von Hagedorn der Critischen Briefe, die von mir publicirt worden, mit einem schönen beyworte gedenkt; pag. 5 des Vorberichtes seiner Oden und Lieder. Sie glauben gerne, daß dises nicht die feinste art zu loben ist. Hr. Dan. Stoppe wird pag. 177. eben so gut gelobet. Ich wollte lieber das verstekte lob in den zeilen an den Buchdruker Zunkel

Raub unsern Frieden kühn die stolzen Nahmen
Daß wir uns bald auch unsrer Gleime rühmen.

Welche Zeilen dem Obotriten J. D. Oberek in den mund geleget werden.

À propos, man hat mir gesagt, es sollte für Oberek Overbek gedrukt seyn. So heißt einer, der in den schwäbischen Belustigungen (brachmonat 1744) einen Artikel eintragen lassen: die Gabe zu schreiben. Er beweiset daselbst, daß niemals jemand geschrieben hat, ohne zu denken; ausgenommen Kobolde aus der Miltonischen Welt. Das stük ist wider die spötter gerichtet, die gesagt, die Gottscheden schreiben mit den fingern, ohne Kopf. Es heißt darinnen: Gottsched ist mir längst beygefallen da ich die Feder angesezet.

Meine Gedanken waren nur, Ihnen eine Art von Glükwunsch zu thun; Izt hat die lust mich mit ihnen zu unterhalten, bis auf die vierte Seite fortgeführt.

Ich verbleibe mit Vergnügen

Votre tres h. obeiss. ser. & ami
Bodmer

Zürch den 13 Sept. 1747

[→]jour qui preceda celui du depart de Mr. Hirzel.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Eigenhändige Korrekturen

Sonst, wie die Kanzel
Sonst, dawie⌉ die Kanzel
war. Allein man
war. Izt ist er Allein man
einen reichen vorschlag
einen reichen und vorschlag

Stellenkommentar

schon gedrukt
Freymüthige Nachrichten, 13. September 1747, St. 37, S. 293.
verdiensten des Hr. de Maupertuis
Auf Betreiben Sacks, Eulers und Gleims hatte sich der Akademiepräsident Pierre Louis Moreau de Maupertuis persönlich beim König für die Anstellung Sulzers eingesetzt. Vgl. Hirzel Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen 1779, Bd. 1, S. 97.
Hr. Samuel König
Zu Samuel König vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1744-00-00.html.
desperation
Hoffnungslosigkeit.
Gnade des Prinz Statthalters
Wilhelm IV., Fürst von Oranien und Nassau, seit 1729 Statthalter von Friesland und somit Landesherr der Universität Franeker, wo Samuel König die Professur für Mathematik erhielt. Ab 1747 regierte Wilhelm IV. als Erbstatthalter der niederländischen Republik der Sieben Vereinigten Provinzen bis zu seinem frühen Tod 1751.
Hn Kirchenschreiber
Salomon Wolf, Kirchenschreiber, Registrator und Amtmann im Kappelerhof, war in diesen Jahren der Hausgenosse Bodmers. Ab 1749 gab er die Wochenschrift Der Neue Eidsgenosse heraus.
der Autor wird nicht genannt
Louis-Jean Lévesque de Pouilly, der die Théorie des Sentimens agréables schon 1736 verfasst hatte. 1747 erschien in Genf eine vermehrte, von dem Theologen und Philosophen Jacob Vernet herausgegebene und mit einem Vorwort versehene Ausgabe.
Bernern ein stich versezet
Vgl. Bodmers unter dem Pseudonym J. J. Oberek verfasste Vorrede zu Popens Duncias, 1747, S. 14.
Bernische deutsche Gesellschaft
Die Deutsche Gesellschaft in Bern war zur Pflege der deutschen Sprache 1739 gegründet worden.
Schwarze
Vgl. dazu ebenfalls die Kritik an Johann Christoph Schwarz in Bodmers Vorrede zu Popens Duncias, S. 14 f.
vor ein Werk empfohlen
Theodor Ludwig Lau hatte 1725 die Uebersetzung in deutscher Heldenpoesie des virgilianischen Lobes- und Lebenslaufs des großen Kriegshelden Aeneas verfasst und diese war von Schwarz in den Beyträgen zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, 1732, St. 1, S. 236–247, rezensiert worden.
beyde dinge hat Zunkel von Regensburg
Heinrich Gottfried Zunkel war ehemaliger Leipziger Kommilitone von Johann Christoph Schwarz und führte mit seinem Bruder eine Druckerei in Regensburg unter dem Namen Gebrüder Zunckel.
darum sage ich
Der folgende Vers stammt aus der Vorrede von Popens Duncias, 1747, S. 13.
Petrarcha
Francesco Petrarca, bekannt für seine Liebe zur unerreichbaren Laura, die zugleich Inspirationsquelle seines dichterischen Schaffens und seiner Liebeslyrik war.
Theocritus sehr gut italienisch übersezt
Domenico Regolotti, Teocrito volgarizzato, 1729.
Ich habe ihn beschrieben
Eine Schrift Bodmers über Regolottis Theokrit-Übersetzung konnte weder gedruckt noch in dessen Nachlass ermittelt werden.
Georg Schuldheiß hat den Musäus verdeutscht
Johann Georg Schulthess' Teilübersetzung von Musaios' Hero und Leander, die allerdings scheinbar erst 1766 gemeinsam mit weiteren Übersetzungen Popes und Drydens unter dem Titel Poetische Uebersetzungen aus dem Griechischen und nach dem Englischen erschien.
mit einem schönen beyworte
Vgl. [F. v. Hagedorn], Oden und Lieder, 1747, S. V: »Von den deutschen Liedern des dreyzehnten Jahrhundertes kann man aus dem zwölften und dreyzehnten der schönen critischen Briefe urtheilen, die unlängst zu Zürich herausgekommen.«
eben so gut gelobet
Hagedorns Lob bezog sich auf Stoppes Parnaß im Sättler, oder scherz= und ernsthafte Gedichte von 1735.
zeilen an den Buchdruker Zunkel
[J. J. Bodmer], Popens Duncias, 1747, S. 13.
in den schwäbischen Belustigungen
J. D. Overbeck, Die Gabe zu schreiben. In: Belustigungen des Verstandes und Witzes, 1744, Juni, S. 543–554.
heißt darinnen
Ebd. S. 549.
jour qui
Übers.: »Der Tag vor der Abfahrt des Herrn Hirzel«. Hans Caspar Hirzel kehrte von seinem Aufenthalt in Potsdam nach Zürich zurück.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann