Brief vom 14. Mai 1774, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 14. Mai 1774

Ich habe die Gelegenheit versäumt Ihnen, mein theürester durch die von der Meße zurüke gehenden Buchhändler zuschreiben, und hole es izt nach. Vor allen Dingen muß ich Ihnen selbst sagen, was vermuthlich das Gerücht schon nach Zürich gebracht hat, daß mir wenig mehr an völliger Gesundheit fehlet. Noch den ganzen Winter über schwebte ich in Gedanken um die Gräber; weil ich fast alle Leibeskräffte verlohren hatte. Gegen das Frühjahr fanden sie sich allmählig wieder ein und die ersten 14 Tage die ich auf meinem Ländlichen Size zubrachte machten mich beynahe zu einem völlig gesunden Menschen, und so bin ich noch izt. Doch muß ich mich vor aller starken körperlichen Bemühung hüten. Gegen alle Erwartung, gegen die schon gemachten Anstallten, und ich könnte hinzuthun gegen meine Wünsche, werde ich aufs neüe mich in die Geschäffte und Verwirrungen der Welt wieder einlaßen müßen.

Inzwischen ist Hr. Wegman aus London hier angekommen und sezet mich in nicht geringe Verlegenheit. Da der König ein so großes Zutrauen in mich gesezt, und meinen Abgang aus seinem Dienst in lebhaften Ausdrüken bedauert hat; so würde ich dieses Zutrauen mißbrauchen und den gegen mich über mein Verdienst gütigen Monarchen würklich hindergehen, wenn ich fortführe mich blos anzustellen, als könnte ich mein Amt nicht mehr verwalten. Also weiß ich in der That noch nicht, was ich Hrn. Wegmans halber thun, oder laßen soll. Gegen Sie, mein theürester, muß ich völlig offenherzig seyn und kann es ohne Ruhmräthigkeit seyn. Noch habe ich in dem Umgange mit diesem sonst braven und gut denkenden Manne, nichts entdeket, das mich berechtigte zu glauben, er werde mich ersezen. Dieses will aber der König ausdrüklich haben, und es wäre Undank von mir, (der Gefahr, die ich dabey lieffe nicht zugedenken) wann ich selbst noch mein Amt verwalten kann, einen andern, der sich weniger dazu schikt, für mich einzuschieben. Dieses sind meine Bedenklichkeiten.

Da ich aber doch noch einige Zeit nehmen muß, um zu sehen ob sich mein gegenwärtiger Zustand würklich halten und befestigen wird, so habe ich auch Hrn. W. nicht sagen können, was ich thun werde. Ich habe ihm blos die Bedenklichkeit die ich habe, mich bey dem König aufs neüe als Invalide anzugeben, eröffnet und ihn gebeten, noch einige Zeit Geduld zu haben. Inzwischen habe ich ihm durch Hrn Wegelin versichern laßen, daß allenfalls seine in Absicht auf mich unternommene Reise auf meine Kosten geschehen seyn soll.

Es ist meiner Natur zuwieder, folglich mir gänzlich unmöglich, wann es auch sonst eine erlaubte Verstellung seyn sollte, mich als unvermögend anzustellen, wann ich es nicht bin. Das müßte ich aber nothwendig thun, wenn ich einen andern an meine Stelle vorschlagen sollte. Die Sache muß aber in wenig Wochen durch einen festen Entschluß entschieden werden.

Meiner beßern Gesundheit ungeachtet ist meine Theorie nicht geendiget. Es fehlen izt noch etwa zehen Bogen daran, die aber bis Johannis vermuthlich fertig werden. Ich habe Hrn. Reich gebeten Ihnen das, was Sie noch nicht haben zuzuschiken.

Ich erwarte Hartman täglich. Seine Gesänge über die nächst verfloßenen Jahre verkündigen einen stark und woldenkenden Man; aber auch einen der sich nicht in die Zeit schiken kann, und der in einem beßern Jahrhundert eine bequämere Stelle würde gefunden haben. Aber mehr Erfahrung wird ihn vermuthlich auch beügsamer machen.

Sie werden in einer Farce, Götter, Helden und Wieland, diesen in einer schlechten Gestallt erbliken. Er hat den Unfug soweit getrieben, daß endlich die Critik gegen ihn erwacht ist. Nun wird er vermuthlich von viel Seiten auf einmal angegriffen werden.

Unserm Prof. Müller macht die Unruh seines Gemüthes böse Tage. Er kann sich an keinem Plan des Lebens halten; will heüte diesen und Morgen einen andern Weg einschlagen; weil ihm jeder zu lang scheinet zum Ziehl zu kommen, das er doch vor seinen Füßen finden könnte, wenn er etwas Standhaftigkeit und weniger Pretension hätte. Ich fürchte gar sehr, daß er die Ruhe, die er sucht nie finden werde.

Noch hab ich Ihnen, so viel ich mich besinne, nicht gemeldet, daß ich Großvater eines muntern Knabens bin, der im verwiechenen Jenner in der Welt erschienen ist. Graff wird allem Ansehen nach Dreßden um Berlin vertauschen; dann wird mir in der Welt wenig zu wünschen übrig bleiben. Aber ich hoffe auch ohne Wünsche und ohne den Reiz der Hoffnungen gute Tage zu leben.

Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

JGSulzer

den 14 May 74.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

Herrn Profeßor Bodmer in Zürich frco Nurnberg.

Eigenhändige Korrekturen

Manne, nichts
Manne, doch nichts

Stellenkommentar

Gesänge über die nächst verfloßenen Jahre
Anspielung auf Hartmanns Gedicht Die Feyer des letzten Abends des Jahres 1772 oder Die Feyer des Jahres 1771. An den Genius der Jahre. Beide Gedichte, Letzteres mit einer handschriftlichen Widmung Hartmanns, sind in der Bibliothek Bodmers nachweisbar (ZB, Sign. 25.443,2, 25.443,3).
in einer Farce, Götter, Helden und Wieland
Goethes Götter, Helden und Wieland. Eine Farce entstand Ende 1773 und war im März 1774 in Leipzig erschienen. Vgl. dazu Herboth Druck- und Rezeptionsgeschichte von Goethes »Götter, Helden und Wieland« 2001.
Dreßden um Berlin vertauschen
Anton Graff hatte 1773 an eine Übersiedlung von Dresden nach Berlin gedacht. Sein Schwiegervater Sulzer wollte sich für eine Pension beim König einsetzen (vgl. Sulzers Brief an Graff vom 11. November 1773, zit. in: Joelson-Strohbach (Hrsg.) Briefe an und um Anton Graff 2014, S. 35). Die Idee zerschlug sich jedoch, weil Graff ausgiebige Reisen ins Ausland »nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis« (ebd.) hätte vornehmen können. Graff, der 1788 nochmals ein Angebot aus Berlin erhielt, blieb zeitlebens in Dresden. Zu Graff und Berlin siehe auch Verwiebe und Fehlmann Blickmagie 2013, S. 22–26.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann