Brief vom 8. April 1768, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 8. April 1768

Wenn den oeffentlichen Nachrichten zu glauben ist, so haben Sie, mein theürester izt eine Sorge weniger; weil Genff nun in Ruhe und Frieden lebt und auf eine Art, die mit ihren Wünschen übereinkommt. Was haben nun die Stände davon, daß sie sich zu ungebetenen Gesezgebern eines freyen Volks aufgeworffen haben? Es wird sich zeigen, ob Bern in den Neüenburgischen Händeln mehr Ehre davon tragen wird.

Mit Bestürzung habe ich den Tod des braven F. Heß vernommen. Von ihm hatten wir viel zu erwarten, und, wo ich nicht irre, weit mehr, als von Lavater. Sein Verstand war so stark und auch so geschäftig, als dieses seine Einbildungskraft. Woher komt es doch, daß L. so begierig ist das Urtheil der Deütschen über seine Schweizer Lieder zu vernehmen? Hat er denn den Beyfall der Deütschen dadurch gesucht? Und wie kann er vermuthen, daß die, in deren Hände die öffentliche Verwaltung der Critik ist, ihn loben werden? Mich ärgert es, daß ein Helvetischer National Autor sich nur einfallen läßt, daß er gern von Deütschen möchte gelesen seyn. Noch ungereimter ist es, daß man auf Zünften gehaltene Reden in deütsche Buchläden schiket. Der Deütsche hat sogar nichts nationales in seinem Geschmak, daß die einen das, was ihnen vorkomt nach der französischen, ein andrer nach der englischen und andre nach der alten Griechischen Elle abmeßen.

Die deütsche Kunstrichter haben sich wieder in zwey Hauptfactionen getheilt. Die Berliner und die Hällischen, die Klozen an ihrer Spize haben, und die eigentlich von Gleim regiert werden. Es ist doch jämmerlich zusehen, wie die einen und die Anderen ausschweiffen. Bald vergeht mir die Lust an meinem Wörterbuch fortzuarbeiten, da ich die Leser dazu nirgend finde. Meine meiste Begriffe liegen so weit außer der Sphær unsrer Partheyen, daß keine darauf achten wird; außer diesen Partheyen aber haben wir kein Lesendes Publicum. Denn die großen Leüthe, von deren Namen unsre Critische Monatschriften so prächtig erklingen, sind außer den Gränzen der Universitäten kaum bekannt.

Ich schike Ihnen meinen Schul Codex, der in voriger Meße liegen geblieben ist. Ihnen wird er wenig nüzen können. Auch kann ich mich eben deßelben nicht groß rühmen, da er nicht aus den ächten Grundsäzen hergeleitet, sondern größtentheils auf übel hergebrachte aber ganz tieff eingewurzelte Gewohnheiten gegründet ist. Die Vorübungen sind eine Höchst unvollkommene Ausführung eines Plans, den ich nach aller Überlegung, der ich fähig bin entworffen habe, und der Verdruß über die schlechte Ausführung hatte einen solchen Einflus auf die Vorrede, daß auch diese so schlecht geworden, als möglich. Ich schicke Ihnen diese Sachen nur deßwegen, daß Sie nicht denken, ich hätte Ihnen etwas gutes vorenthalten. Unser neüe Profeßor scheinet doch sich nach und nach in die Sphær darin er gefallen ist, zuschiken. Aber es ist unglaublich, wie schweer es ihm wird, sich des deütschen Ausdruks zu bedienen.

Füßli beobachtet ein gänzliches Stillschweigen gegen mich. Durch die dritte Hand weiß ich, daß man ihm in England gerathen hat, sich ganz auf das Mahlen und Zeichnen zulegen, und daß er diesem Rath zu folge im Frühjahr nach Italien gehen werde. Wie? und durch was für Unterstüzung wird nicht gemeldet.

Müller hat mir viel von dem jungen Meister erzählt: wir haben auch die Frage untersucht, ob er durch die Professionem Eloquentiæ an dem hiesigen Gymnasio Müllers Amtsbruder werden soll. Lezterer befürchtet doch, daß jener in manches sich nicht würde schiken können, und ich habe eine Große Abneigung zu einem Amte, wo es auch auf das zufällige persönliche viel ankomt, jemanden vorzuschlagen, den ich von Person nicht kenne. Die Stelle, wovon die Rede ist, ist zwahr noch nicht offen; aber wahrscheinlicher weise wird sie es in diesem oder dem nächst folgenden Jahr werden.

Ich umarme Sie, mein theürester von ganzem Herzen.

den 8 Aprill

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Einschluss und mit gleicher Sendung

[J. G. Sulzer], Erneuerte Verordnungen und Gesetze für das Königl. Joachimsthalsche Gymnasium, 1767. – [Ders.], Vorübungen zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens, 1768.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der letzten leeren Seite mit rotem Stift: »Ob Voss verwehren könnte eine neue Edition der Noachide«.

Eigenhändige Korrekturen

eben deßelben nicht
eben ⌈deßelben⌉ nicht
gutes vorenthalten
gutes zu vorenthalten
ob er durch
ob er nicht durch

Stellenkommentar

auf Zünften gehaltene Reden
Anspielung auf J. C. Lavater, Trauungsrede an Herrn Johann Felix Hess und Jungfrau Maria Barbara Schulthess, gehalten den 13ten October 1767.
Hauptfactionen
Gemeint sind »Hauptfractionen«.
Unser neüe Profeßor
Christoph Heinrich Müller.
Durch die dritte Hand
Woher Sulzer die Information hatte, konnte nicht ermittelt werden. Füssli war von Joshua Reynolds dazu angeregt worden, sich ganz auf die Malerei zu konzentrieren und nach Italien zu gehen. Allerdings reiste er erst 1770 auf dem Seeweg über Genua nach Rom, wo er sich bis 1778 aufhielt. Vgl. dazu Federmann Füssli 1927, S. 37–48.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann