Brief vom 3. September 1765, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 3. September 1765

den 3 Sept.

Ich hatte schon die Feder in der Hand, Ihnen zu schreiben, da ich durch Empfang eines Pakets, welches vor einem halben Jahr aus Zürich abgegangen, unterbrochen ward. Gestern bin ich zum erstenmal nach einem überstandenen Viertägigen Fieber, das ich 4 Wochenlang gehabt habe, wieder ausgegangen. Es hat mich abgemattet, aber mir zugleich den Dienst gethan, mich von Geschäften und Zertstreüungen zu entladen, deren Wegweisung ich entweder für unmöglich, oder für nicht erlaubt gehalten. Von diesen hat das Fieber mich zu mir selbst zurük geführt. Die erste Frucht dieser Zurükkunft zu mir selbst, sollte die seyn, daß ich auch zu Ihnen und andern Freünden wieder zurükkehrte.

Nun will ich Ihnen, gleich einem der von einer Reise zurüke kommt erzählen, wie wol ich wenig zu erzählen habe, da das Land, wo ich am meisten gewesen Ihnen unbekannt ist und auch nicht verdient von Ihnen gekennt zu werden. Daher will ich mich blos bey Sachen aufhalten, die mich und unsre Freündschaft betreffen. Vor allen Dingen wünschte ich Sie überzeügen zu können, daß die schlechte Ausführung der Noachide von keiner einzigen Ursache herrühre, deren Wegräumung in meiner Macht gewesen wäre. Ich sage von keiner einzigen, weil ich mir der Sache vollkommen bewußt bin. Um den besten Druker in diesem Land auszusuchen, habe ich das Werk keinem Verleger angeboten; um völlig Meister zuseyn, daß alles nach meinem Sin geschehen sollte, habe ich den Druk auf meine Kosten Veranstaltet; um von dem Druker die Bedingung zu erhalten, daß er jedes Blatt, darin ich ihm Fehler zeigen würde, die nicht Fehler der Urkunde wären, auf seine Kosten wieder umdruke, habe ich ihm jeden Bogen mit 8 Rthlr.. in Golde bezahlt. Da die 4 ersten Bogen voll Fehler waren, und ich auf das umdruken Bestuhnd, welches er nicht thun wollte, so mußte ich einen Proceß anfangen, über welchem das Werk noch ein Jahr würde aufgehalten worden seyn, oder gegen den Contrakt die 4 ersten Bogen noch einmal auf meine Kosten druken laßen. Ich wählte lieber das lezte. Ich schrieb um nicht noch einmal in diesen Fall zukommen an einen gewißen Eisenberg, Hofmeister des Grafen v. Borcke, den Menschen dem ich darin am meisten zutraue, um ihn zu bitten die Corektur zu übernehmen. Er that es mir zu gefallen, und glaubte es aufs beste zu thun. Der Druk gieng so langsam, daß ich das noch nicht fertige erste Exemplar erst in der Meßwoche erhielt, wodurch ich außer Stand gesezt wurd, die Blätter, wo die größten Fehler waren umdruken zu laßen, ja sogar außer Stand einen Indicem Erratorum zu machen, weil der Druker mir das Manuscript nicht herausgeben wollte unter dem Vorwand, daß er es der Fehler halber zu seiner Rechtfertigung behalten müßte. Ich erzähle Ihnen mein theürester nur die Summe deßen, was ich hiebey ärgerliches erfahren habe. Es ist also mehr eine Fatalität, als meine Schuld, daß alles so übel ist besorget worden. Ich überlaße Ihnen auf Anstalten zu denken, wie der Sache, in so weit es möglich ist abzuhelffen seyn. Genug hievon.

Izt komme ich auf mich und meine Familie, da ich Ihnen denn zuerst mit recht niedergeschlagenem Herzen ins Ohr sagen muß, daß die Jfr. M. meine Hoffnungen so gar nicht erfüllt, daß meine Kinder und ich beynahe izt elender, als jemals sind. Auf der einen Seite ist es, wie ich izt deütlich sehe, würkliches Unvermögen, welches aus Mangel des Verstands herkomt; anderseits Untüchtigkeit, welche von vielen außer ihrem Beruff liegenden Vorsäzen, Hoffnungen und Projekten herkomt. Es ist offenbar, daß man an dieser Person ein gewißes ⟨Geschäz⟩ von Empfindungen, für Verstand, Verbergung einer recht großen Affektation, für gute Sitten angenommen hat. Ich beklage Sie selbst, eben so sehr, wie mich und meine Kinder. Denn was für Vergnügen kann sie mit solchen Gesinnungen unter uns haben? Ich gedenke der fast gänzlichen Untüchtigkeit einer Haushaltung vorzustehen gar nicht; wie wol Sie, mein theürester erstaunen würden, wenn Sie wüßten, was für ein schlechtes Leben ich mit so großem Aufwand führe, was für Summen bey mir verkocht werden, ohne daß ich mich unterstühnde einem Fremden Ehrenhalber ein kleines Mahl zu veranstalten, weil die üble anordnung deßelben, die Krankheit meines Hauswesens, verrathen würde. Ich habe alles, was hierüber, so wol über die wesentliche Stüke der Erziehung, als über das Hauswesen zu sagen ist, ofte gesagt, mit der gehörigen Achtung, als ein Rathgeber und nicht als ein Meister im Haus gesagt. Anfänglich würkte dieses nur Erstaunen, da man meine Grundsäze der Erziehung, mein Haus und meine Lebensart ganz anders fand, als man sich vorgestellt hatte. Man hatte geglaubt die Kinder sollten lernen künstlich und gelehrt, insonderheit Empfindungsvoll zu sprechen, und ich verlangte Einfalt, blos überlegte, aber nicht studirte gesunde Vernunft, eine mänliche Faßung des Gemüths, nicht kindische Aufwallungen. Man hatte sich von Hofleben, Manieren der großen Welt, Zerstreüungen in Gesellschaften träumen laßen, und fand bey mir Neigung zur Einfalt, Vermahnungen zu einem Häuslichen, eingezogenen, arbeitsamen Leben. Ich wollte alles gerne so einrichten, daß man sein größtes Vergnügen zu Hause, in sich und der kleinen Häuslichen Gesellschaft, und nicht in der Zerstreüung finden sollte. Man wollte von gelehrten Sachen sprechen, wenn ich von der Ordnung des Hauses, vom Vorzug würklich und eigenthümlich weiblicher Tugenden, vor einer unnüzen Parade Gelehrsamkeit redete.

Sie sehen mein theürester, daß ich mein ganzes Herz vor Ihnen öffne. Ich habe schon lange angestanden, ob ich es thun soll oder nicht, weil ich vorsehe, daß ich Ihnen Kummer machen werde, Kummer für mich, für meine Kinder und für die Person, die uns beyden gleichen Kummer macht, weil sie doch zulezt, die unglüklichste von uns allen ist, ob sie es gleich nicht zu fühlen scheint. Ich fürchte gar sehr, daß sie mit Hoffnungen hieher gekommen ist, die meinen Vorsäzen gänzlich entgegen gesezt sind. Ich sehe für dieses Übel keine Hülffe, und suche nur in der Geduld dazu ich mich täglich ermahne, einigen Trost. Aber eben diese erzwungene Geduld macht mir das Leben sauer, weil ich sie täglich erneüern muß. Dabey kränkt es mich, daß ich eine Person, die ihr Vaterland für mein Haus verlaßen hat, die hier niemand hat, als das Haus, welches einigermaßen durch sie elend ist, vor mir sehe, ohne ihr Schiksal beßer machen zu können. Sie können leicht urtheilen, daß ich mich zwinge ihr nicht merken zulaßen, wo und wie sehr mich der Schuh drükt; aber ein paar Freündinnen, die mein Haus und das ihrige für eines ansehen, können nicht allemal so behutsam seyn, als ich, und dieses hat schon zu mehr, als einer Kränkung Anlas gegeben. Meine einzige Hoffnung ist, daß mein ältestes Kind, so starke Schritte gegen das gesezte Alter thut, und von einem so guten Charakter ist, daß sie in ein paar Jahren wenigstens einen Theil meiner Sorge wegnehmen wird. Es ist mir immer überaus bedenklich vorgekommen, daß von allen meinen Blutsverwandten und von unsern Gemeinschaftlichen Freünden in Winterthur, niemal eine Anregung gegen mich, dieser Person halber geschehen, selbst in den Briefen nicht, die sie selbst mit gebracht hat. Ein so allgemeines und so gänzliches Stillschweigen sezte mich anfänglich in Verwundrung, izt scheinet es mir erklärt zu seyn. Es ist offenbar, daß einige dadurch ihr Mißfallen, andre ihr Mitleiden bezeügen wollten. Laßen Sie uns aber alle diese Klagen bey uns verwahren. Denn ich sehe doch kein Mittel gegen das übel. Genug von Klagen.

Denn ganzen Sommer habe ich in vielen Geschäften zugebracht. Ein Theil derselben war angenehm: nämlich der welcher mein kleines Tusculum betraff. Es fängt an eine Gestallt zu gewinnen. Eine kleine, ländliche Wohnung für meine Familie, für einen Herzensfreünd und denn für einen Gärtner ist bald fertig, und mein Vorsaz ist schon künftigen Sommer meine Kinder von den Eitelkeiten und dem freventlichen Wesen der Statt dahin zu führen und eine Zeitlang da zu wohnen. Zum Glük sind sie selbst dazu nicht abgeneigt. Ich werde an der Spree einen freyen offenen Gang von der schönsten Aussicht, hinter dem einen dikken Busch von undurchdringlichem Schatten; nach diesem einen kleinen Lustgarten, dem zur Seite eine schöne offene Wiese, darhinter einen Küchen Garten, denn ein Arboretum von allen Sorten der schönsten und raresten wilden Bäume, davon der größte Theil aus America komt, aber unser Clima verträgt haben. Mitten in diesen Stüken liegt ein kleines Häußgen, das den Zeiten einer erst angehenden kleinen Republic würdig ist, von einem großen, mit Bäumen besezten und mit Federvieh angefüllten Hof umgeben ist. O! daß sich dieses nicht an den Berg versezen läßt, von dem Sie Zürich übersehen! Ich habe nur einen kleinen Theil meines Vermögens, an dieses Gütchen verwendet, um nicht gar zu feste daran gebunden zu seyn.

Mein Werk über die schönen Künste hat dabey wenig zugenommen. Doch ist etwas mehr, als nichts dazugekommen und manches ist inzwischen in meinem Kopf reiffer geworden, manches hat eine beßere Form bekommen. Der bevorstehende Winter soll, so Gott will, ihm wieder einen vortheilhaften Stoß geben.

Bey den izigen Umständen der Welt gebe ich alles zu was Rousseau dem Schulth. gesagt hat. Aber ich habe die Hoffnung nicht verlohren, daß nicht wenigstens irgend in einzeln Theilen der Welt ein Licht aus der Finsternis kommen werde. Man wird als denn sagen, unsern Vorgängern waren die Wißenschaften nichts nüze, aber uns ist das nüzlich, was ihre Wißenschaften hervorgebracht haben. Die Aufklärung des Geistes. Noch izt sind Wißenschaften und Künste Werkzeüge, welche die izige Welt nicht zu brauchen weiß, mit denen sie blos spielt, aber sie können zu einem großen Gebrauch dienen. So spielten die alten Pythagoreer und Platoniker mit der Mathematik, die izt eine sehr brauchbare Wißenschaft ist. So spielten die Alten mit dem Magneten, den man izt nüzlich braucht – Erst izt, da ich ihren Brief vom 14 May gelesen, verstehe ich alle die Artikel ihrer späthern Briefe, da Sie mir von Bielefeld sprachen. Dieser Man ist zuverläßig nicht so, daß er unser seyn könnte. Ich will einen andern Weg in die Gothaische Bibl. suchen. Ihr Urtheil von Otten ist richtig, aber zu gelinde. Er ist ein wahres Monstrum unendlich würdiger, das strenge Lycurgische Gesäz an sich zu erfahren, als jene unschuldige Spartanische Kinder, die nur am körper ungestaltet waren. Es ist unbegreifflich, wie weit er den furorem calumniandi treibt, und wie ein solcher wechselbalg würklichen Geist und List dazu haben könne. Der Arme Wegelin ist so glüklich, als es seine Frau ihm zu seyn erlaubt. Escher u. Keller wenden ihre Zeit wol an. Die andern drey habe ich wenig gesehen. Das billet an Hr. Ott, werde ich durch Hr. Keller wieder zurükschiken.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Eigenhändige Korrekturen

Kosten wieder umdruke
Kosten wieder abd umdruke
es mir zu gefallen
es auf mir zu gefallen

Stellenkommentar

Empfang eines Pakets
Nicht ermittelt.
und andern Freünden
Vgl. auch Sulzers Brief an Gleim, Berlin, 5. September 1765 (Körte (Hrsg.) Briefe der Schweizer 1804, S. 357–358).
einen gewißen Eisenberg
Nicht ermittelt.
Indicem Erratorum
Übers.: »Verzeichnis der Fehler«.
so starke Schritte gegen das gesezte Alter thut
Die (nach dem frühen Tod der Erstgeborenen) älteste Tochter Sulzers, Elisabetha Sophia Auguste, heiratete 1771 den Maler Anton Graff.
an den Berg versezen
Zürcher Uetliberg.
was Rousseau dem Schulth. gesagt
Siehe die Zitate aus dem Bericht Johann Jakob Schulthess' in Brief letter-bs-1765-05-14.html.
Weg in die Gothaische Bibl.
Bodmer war seit längerer Zeit vergebens auf der Suche nach einer Abschrift des mittelhochdeutschen Eneasromans von Heinrich von Veldeke nach dem Codex der Herzoglichen Bibliothek von Sachsen-Gotha. Siehe auch Kommentar zu Brief letter-bs-1763-03-02.html.
Otten
Felix Ott, Sohn Hans Jakob Otts.
furorem calumniandi
Übers.: »verleumderische Wut«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann