Brief vom 30. April 1765, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 30. April 1765

Mein theürester Liebster Freünd.

Sie werden sich bey Empfang der Noachide wundern, daß weder Füßli noch ich diesem Werk den ganzen Dienst gethan haben, den wir uns vorgesezt hatten. Er hat die vier fehlende Zeichnungen zu schiken und ich die Vorrede zu machen unterlaßen. Die Ursache seiner Versäumnis werden Sie aus seinem Brief finden, die meinige aber ist einer Fatalität zu zuschreiben. Schon in dem Frühling des verwiechenen Jahres hatte ich meine Vorrede entworffen, und so weit gebracht, daß ich sie sorgelos liegen ließ, bis der Druk meist würde zu Ende seyn, um hernach die lezte Hand anzulegen. Während meiner Reise nach Spa, änderte ich meine Wohnung, und meine zurükgelaßene Bediente schleppten meine Sachen so unordentlich von einem Haus ins andre, daß viele von meinen Büchern und Papieren sich bis auf diese Stunde noch nicht wieder gefunden haben. Ich glaubte aber sicher zu seyn, meine Papiere in Ordnung zufinden, bis ich die alt Vorrede zusuchen Anfing. Dies geschah eben zu der Zeit da ich die meisten Beschäftigungen hatte, die mir jemal in meinem Leben zugestoßen sind, und die mich ofte ganze Tage durch nicht zu mir selbst kommen ließen. Ich versuchte, das Verlohrne aus meinem Gedächtnis wieder zu ersezen, aber die Versuche gelungen mir so übel, daß ich nicht mit zufrieden seyn konnte. Indeßen verstrich die Zeit und ich mußte es geschehen laßen, daß das Werk ohne Vorrede abgedrukt wurd. Ich hoffe indeßen in meinem Lexico das Versäumete nachzuholen.

Alles, was ich Ihnen von unserm Füßli schreiben könnte wird Ihnen beyliegender Brief sagen. Seine Rechnung habe ich noch nicht bekommen; sie ist aber vorigen Sommer bis auf den lezten Aug. von mir berichtiget worden. Wie stark die Summe ist, die von da an bis izt verwendet worden, ist mir noch nicht bekannt; aber ich vermuthe, daß es über 40 Pfund Sterl. seyn werde. Da ich ihm in London Credit gemacht habe, so kann ich nicht anders, als die Summe bezahlen, ob es mich gleich schweer ankomt, sie allein zu tragen, da ich schon das vorige Jahr 20 Pfund aus meinem Beütel für ihn bezahlt habe. Aber sagen Sie diese Umstände keinen unzuverläßigen Leüthen, denn es ist eben nicht nöthig, daß andre es wißen blos ihre Critiken darüber zu machen. Übrigens geben meine Freünde in London ihm das beste Zeügnis des guten Verhaltens und es ist zu hoffen, daß er fürs künftige allein fortkommen werde. Sie wißen, daß in Zürich Leüthe sind, die sich ein Vergnügen daraus machen würden, etwas an ihm zu tadeln, darum müßen seine Economische Umstände nicht bekant werden.

Seit 3 Monaten habe ich keine Zeile an meinem Werk schreiben können, und ich weiß nicht ob es in den nächsten 2 Monaten geschehen wird, so wenig bin ich gegenwärtig meiner Zeit mächtig. Doch sind meine Arbeiten nur Gelegentlich und Zufällig, also müßen sie aufhören. Die Stunden, welche mir hier und da zu eigenem Gebrauch des Nachmittags vergönnet sind bringe ich meistens außer der Statt zu, wo ich einen Garten und eine kleine Meyerey anlege, dazu der König mir den Plaz geschenkt hat. Ich fahre mit meiner Familie zu Waßer dahin. Ich sehe dieses als eine künftige Retraite meiner alten Tage an, und suche es so anzulegen, daß ich Vergnügen daran haben werde.

So gut ich die Veranstaltungen gemacht hatte, von der Leipziger Meße, daß, was Sie mir etwa geschikt haben bald zu erhalten, so wird es nach der alten weise gehen, daß ich werde bis Mitten im Sommer darauf warten müßen.

Wägelin ist noch nicht hier, ich erwarte ihn aber täglich. Ich hoffe Zeit zu haben durch Hrn Bürkly Ihnen ausführlicher zu schreiben. Izt muß ich abbrechen.

Von ganze Herzen umarme ich Sie, meinen Besten Fr.
JGSulzer

den 30 Aprill.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief J. H. Füsslis. – Ein Exemplar von dessen Reflections on the painting and sculpture of the Greeks, 1765.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der Umschlagseite: »den 22sten Jun. empfangen, nebst Füßlis Reflections on the painting p.«

Stellenkommentar

die vier fehlende Zeichnungen
Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1764-11-25.html.
aus seinem Brief
J. H. Füssli an Sulzer, London, 17. April 1765 (ZB, Ms Bodmer 1a.30, 5). Darin entschuldigte sich Füssli u. a. für den »zwölfmonathlichen Nebel« des Schweigens und schrieb: »Gott weiß wie es mich traf da ich hörete daß ich Sie hier nicht umarmen sollte. – Nicht meiner Umstände wegen, welche, wie ich hoffe, mein Herz nie klein machen werden, sonder aus wahrer Ergebenheit und herzlicher Liebe; so lange ich Sie erwartete, war, was ich zeichnete, ihr Gesicht, was ich schrieb, ihr Name, was ich traumete, ihr Bild – aber es ist nicht hier wo wir glükselig seyn sollen. Und wie befindet sich mein Vater, der Ursache genug hat sich meiner nicht zu erinnern, wie Breitinger? Bodmer? Lavater?« Füssli übersandte Sulzer mit seinem Brief »die Übersezung von W. gedanken;« und bemerkte dazu: »ich habe ihr eine außerordentlich freye von denjenigen Aufsäzen desselben Verfassers beygefüget die in dem Vten Bande der bibliothek &c begraben wurden.« Füssli fragte zudem im Auftrag seiner Verleger Millar und Murdoch: »Können 25 Exemplare in Deütschland und 25 in die Schweiz angebracht werden, das Ex: zu 5 engl. schillingen«.
Lexico
Sulzers Allgemeine Theorie.
einen Garten und eine kleine Meyerey
Vgl. dazu Brief letter-sb-1765-03-26.html.
Retraite
Übers.: »Zuflucht«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann