Brief vom 27. Oktober 1762, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 27. Oktober 1762

Ich bin nicht nur würklich in die Arche eingegangen, mein theürer Freünd, sondern der Einsamkeit derselben schon so gewohnt, daß ich anfange die Früchte des sich sammelnden Geistes zu genießen. Ich kann den ganzen langen Morgen, der sich um fünf Uhr anhebt und bis gegen Mittag dauert, zu meiner vorgeschnittenen Arbeit anwenden. Alsdenn muß ein Spaziergang auf der neüen Wiese mir einen Geschmak an meinem ganz ländlichen Mal verschaffen. Des Nachmittags besuchen mich unsre Freünde, oder ich gehe zu ihnen und so fliesen die Tage über mir weg. Sie sind auf verschiedene Weise bey mir, so wol, wenn ich einsam bin, als in Gesellschaft unsrer Freünde, und das nun mehr festgesezte gute Wetter läßt mich hoffen, daß Sie bald auf die Kräftigste Weise und nach Leib und Geist hier seyn werden. Es ist mir gelungen die Wohnung fast gänzlich nach meinem Sin einzurichten, so daß ich fast alle Bequämlichkeiten habe, deren ich zu Hause gewohnt bin. Nun habe ich auch angefangen meine Gedanken und Einfälle über die Noachiden fortzusezen, wie wol ich Ihnen noch nichts schike. Ich sehe diese kleine Bemühung nicht als eine Zurechtweisung des Dichters an, der sie gar nicht bedärff, sondern als eine algemeine, aber aus vielen einzeln Theilen bestehende Erinnerung beständig auf seiner Hut zu seyn um alles auf das Vollkommenste zu machen. Das Vollkommenste selbst erreicht er durch sein Genie und durch seinen feinen Geschmak in deßen Anwendung er aber bisweilen ermüdet, wenn ihn nicht neüe Stacheln reizen. Ich würde mich für meine ganze Mühesame Reise genug belohnt halten, wenn es mir gelünge ihr Genie da anzuspornen, wo es in etwas ermüdet gewesen. Je mehr ich ihrem Werk nachdenke, je mehr finde ich es würdig, so vollkommen, als möglich ist zu erscheinen, und ich sehe gar nicht ein, warum Sie wollten mit einem, wie wol hohen Grad der Mittelmäßigkeit zufrieden zu seyn. Freylich hätten Sie vor dreyßig Jahren mehr Hize gehabt das Werk in allen einzeln Theilen bis auf das vollkommenste auszuarbeiten, aber jezo sind sie desto geneigter durch die Zeit zu ersezen, was die Hize nicht mehr in der Geschwindigkeit thun kan.

Ich bin fast in einem ähnlichen Fall mit meinem Werk. Da ich von Natur wenig Wärme des Genies habe, so suche ich durch Zeit und anhaltende Arbeit meinen Betrachtungen nach und nach einen erträglichen Grad der Vollkommenheit und Richtigkeit zu geben. Ich sehe mich vergeblich nach Hülffe um, und muß mir gefallen laßen alles allein zu thun. Die nöthige Hülffe der Bücher würd mir weniger Mangeln, als die, welche ein beßeres Gedächtnis mir geben würde. Ist Ihnen etwa einmal ein Werk zu Gesichte gekommen, das ich glaube ehedem gesehen zu haben das eine Art florilegium aus den Alten ist, da man nicht nur über die Figuren der Grammatik und Rhetorik, sondern auch über alle Arten des Schönen in der Rede, Beyspiele unter ihre Titel ausgetheilet, zusamen getragen hat? Vielleicht kennt der Hr. ChorHr. Breitinger dies Werk und könnte mir, wo nicht das Buch selbst, doch wenigstens den eigentlichen Titel davon anzeigen. Ich glaube, daß es mir in mehr, als einem Fall gute Dienste thun könnte.

Empfehlen Sie mich Ihm bestens. Ich hoffe daß die Quarantaine die er in seiner Zelle hat halten müßen, nun überstanden seyn wird. Mein Closet ist nicht viel größer, als seine Zelle, doch sehr viel angenehmer.

Adieu. Sulzer.

W. den 27 Oct.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Anschrift

Herrn Profeßor Bodmer in Zürich

Vermerke und Zusätze

Zwei Siegel.

Stellenkommentar

eine Art florilegium aus den Alten
Nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann