Brief vom 22. September 1759, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 22. September 1759

Berl. den 22 Sept.

Ich schike Ihnen, mein theürer Freünd, beyliegenden Brief an Hrn. Künzli offen, damit Sie darin die Nachrichten lesen können, die ich wegen Mangel der Zeit nicht noch einmal schreiben kann. Die Stunde der Mitternacht ist vorbey, und es läßt sich zu einer angenehmen Morgenröthe an. O Könnte ich doch mein bester Freünd nur einen Tag ihres Umganges genießen, um ihnen alles zu erzählen, was ich hier gesehen und gehört habe! Oder wenn ich ihre Feder hätte, um Begebenheiten und Menschen, einzele Menschen und ein ganzes Volk zu beschreiben und zu schildern! Es ist einer meiner eyfrigsten Wünsche, Sie in der Gesellschaft unsrer Freünde in Philokles Förener Hütte, oder auf den ihm benachbarten Bergen zu sehen, um Ihnen zu erzählen und mein Herz und meine Gesinnungen vor ihnen an den Tag zu bringen. Sie würden ganze Tage sizen und mir zuhören. Friederich und sein Volk und seine Feinde, welcher Stoff zu Unterredungen! Ich denke ofte daran, daß solche Beobachter der Menschen, wie Sie und Philokles sind, hier jezo an ihrem rechten Orte stühnden, sie selbst wären in ihrem Element und würden der Nachwelt merkwürdige Dinge zur Betrachtung hinterlaßen. Vielleicht bin ich so glüklich, daß mein Wunsch noch erfüllt wird.

Sie haben mir ein unbeschreibliches Verlangen nach ihrem Oedipus, ihrem Ulyßes und der Elektra erwekt. Der bloße Einfall einen Kenner der wahren Religion unter die alten Gözendiener zu sezen, ist eine fürtreffliche Erfindung, und giebt Gelegenheit die große Wahrheiten der Religion in einem einnehmenden Licht zu zeigen, zu geschweigen, daß das Phænomenum an sich selbst ausnehmend ist. Versäumen Sie doch, ich beschwöhre Sie, die erste Gelegenheit nicht mich des Versprochenen Vergnügens theilhaftig zu machen.

Iselin ist noch zu jung, sich als einen Gesezgeber zu zeigen, ein lebhafter Geist von seinen Jahren ist gar zu geneigt, die physische Möglichkeit mit der moralischen zu verwechseln. Rousseau und Brown haben bisweilen ihre Säze übertrieben. Sie sind nur da fürtrefflich, wo sie mittelmäßig sind.

Ein vertrauter Freünd des Zinzendorffs und ein liebenswürdiger Mensch zugleich, dies ist mir ein Räthsel, das ich mir nicht auflösen kann. Seyen Sie mir ein Œdipus. Ich bin auf dem Punkt die deütsche Nation zu verachten, da es so rar ist Leüthe von einer gewißen Stärke des Geistes und Gemüthes darin anzutreffen. Hier, wo ich ihre Anzal am größten glaube, sind sie so rar wie gold. Kleist ist durch seinen Tod der besten Zeit der Athenienser würdig, aber bis jezo hat er keinen beßern Lobredner gefunden, als den Frankfurter Nicolai. Friederich ist für sein Land und für seine Zeit zu groß. Die kurze Gesichter reichen nicht dahin, wo seine größe Hauptsächlich sichtbar ist.

Adieu.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Anonym Über Friedrich den Großen II 1807, S. 255 f. (Auszug).

Anschrift

à Monsieur Bodmer Professeur trés celébre à Zurich.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief an Martin Künzli.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am unteren Rand der Umschlagseite: »Schulmeister ... von Walliseln bittet nachzufragen ob nicht ein preussischer Officier sey nahmens Rathgeb, aus der Schwiz, von Reiden bey Wallisellen, der zuerst als Soldat in holländischen Diensten gestanden; er hat einen bruder der wirth zu Reiden ist, und eine Schwester, die in Franken dient. Er soll ein obriste oder general seyn.« – Siegelreste.

Stellenkommentar

beyliegenden Brief
Sulzers ebenfalls am 22. September 1759 verfasster Brief an Künzli. Sulzer schilderte darin ausführlich die Geschehnisse der Schlacht bei Kunersdorf sowie den weiteren Verlauf des Krieges und ging auch auf den Tod Ewald Christian von Kleists ein: »Unser rechtschaffene Kleist ist für sein Vaterland gestorben. Er hat mit unglaublicher tapferkeit seine Schaar ausgeführt, bis er durch viele Wunden besiegt liegen geblieben ist. Er wurd gefangen und starb ohngefähr 20 Tage später in Franckfurth.« (SWB, Ms BRH 512/73).
Philokles Förener Hütte
Das alte Holzgiebelhaus stand an der Stelle des heutigen Gemeindehauses in Trogen. Ende der 1740er Jahre wurde es von Zellweger mit einem dazugehörigen Wald erworben und fortan als Mittelpunkt seines Freundeskreises etabliert. Hier traf man sich zu Molkenkuren und geselligem Beisammensein. Die Hütte, die in den 1760er Jahren versetzt worden war, existiert noch am Ortsrand.
hier jezo an ihrem rechten Orte
Vgl. auch Sulzer an Künzli, 22. September 1759: »Hätte Berlin doch einen Bodmer, wie sehr würde die Nachwelt ihn bewundern müßen, es sey daß er das Amt eines Geschichtschreibers, oder Redners oder eines dichters auf sich nähme.«
keinen beßern Lobredner
G. S. Nicolai, Rede bei dem Sarge des Herrn Kleist, die 1759 gehalten und 1760 gedruckt wurde. Sein Bruder Friedrich Nicolai publizierte 1759 ein Ehrengedächtniß Herrn Ewald Christian von Kleist.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann